Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Eine Tote und ganz viel Gefühlschaos
Neuer Roman von Marlies Grötzinger spielt am Bodensee – Geschichte spitzt sich zu
BURGRIEDEN - Für Wassersportler ist das Schwäbische Meer ein Paradies. Oft aber unterschätzen Segler, Taucher und Badegäste das scheinbar ruhige, idyllische Gewässer. Dann schrillen bei der Wasserschutzpolizei die Alarmglocken. Die Burgrieder Autorin Marlies Grötzinger griff diese Gefahren in ihrem Roman „Seebeben“auf – und hat nun mit „Seerausch“dessen Fortsetzung vorgelegt. Mit einem düsteren Ende.
Seit sieben Monaten arbeitet Isabel Böhmer bei der Wasserschutzpolizei Friedrichshafen, als unter mysteriösen Umständen ein Segelboot explodiert und mitsamt der Ehefrau des Eigners im Bodensee versinkt. Ist es ein Unfall oder das perfekte Verbrechen?
Mit dieser Frage beschäftigt sich Grötzinger auf den insgesamt 341 Seiten nur am Rande. Viel wichtiger sind ihr die Turbulenzen in Isabels Privatleben. Sie beschreibt ausführlich die Ménage-à-trois zwischen Isabel, ihrem Vorgesetzten Carl W. Dangelmann – oft nur „CaWe“genannt – und ihrem Freund Thomas von Harnsfeld, der sich seit geraumer Zeit an seinem Doktortitel der Philosophie versucht. Zwischen all den alten philosophischen Denkern hat er allerdings die allzu weltliche Isabel vergessen. „Warum hat sie Thomas nicht schon lange gesagt, dass es so nicht weitergehen konnte? Hatten nicht ihre unerfüllten Bedürfnisse, die ins Leere gelaufenen Bitten nach Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit sie erst schwach werden lassen?“, fragt sich Isabel an einer Stelle. Ihr Ausweg zwischen all dem Nebel auf dem See und in ihrem Leben: eine leidenschaftliche Affäre mit ihrem Vorgesetzten Carl, dessen „unfassbar erotisch-männlicher Ausstrahlung“sie erlag.
Am Ende ihres ersten Romans „Seebeben“kostet ein schwerer Bootsunfall ihr und ihrem Chef beinahe das Leben. „Seerausch“knüpft daran an und zeigt, wie die beiden sich mühsam zurück ins Leben kämpfen und sich Isabel und Thomas dabei mehr und mehr voneinander entfremden. Aber Carl bekommt davon nichts mit – er liegt auf der Intensivstation. Isabel macht es sich zur Lebensaufgabe, alleine mit der Situation fertig zu werden. „Möglichst rasch wollte sie alles hinter sich lassen: Carl und die Klinik und Allensbach und ihre Vergangenheit.“Ein frommer Wunsch. Denn immer wieder holt sie die Vergangenheit ein. Marlies Grötzinger erzählt, wie die beiden auf dem Teppich „wie ausgehungerte Tiere“übereinander herfallen und wie auf der Dienststelle der Duft von „CaWe’s“Parfum in Isabels Nase kriecht.
Wäre das alles nicht schon genug, gesteht ihr Kollege Timo auch noch seine Liebe. Allerdings vergebens. „Ich fange nie wieder etwas mit einem Kollegen an! Nie wieder, hörst du!“, sagt sie ihm.
Timo ist es dann, der erst spät vom eigentlichen Unglück auf offener See erzählt: „Auf dem See ist ein Segelboot explodiert und gesunken.“Diesen kriminalistischen Erzählstrang hält die Autorin aber sehr kurz. Eher beiläufig erfährt man, dass das Boot vorsätzlich versenkt wurde und dass der Besitzer Doktor Wulf Kern deswegen in Untersuchungshaft sitzt, ohne dass ihn die Staatsanwaltschaft des Mordes an seiner Frau überführen kann. Diese Situation löst die Autorin nicht auf.
Es gibt mittlerweile zu fast jedem Ort einen eigenen Roman, Krimi oder Fernsehfilm. Menschen mögen Lokalkolorit. „Da war ich auch schon einmal“– daran können sich viele begeistern. Doch leider schreibt Grötzinger davon viel zu wenig. Lokales blitzt lediglich auf, wenn Isabel und Thomas sich über das „Negerbad“in Friedrichshafen unterhalten oder wenn ihr Thomas einen geschichtlichen Vortrag über die „Imperia“am Konstanzer Hafen hält. Den Häfler freut es, wenn die Autorin erklärt, dass das Vereinsheim „Schussen“am Hafen früher eine Eisenbahnfähre war.
Grötzingers Werk ist weniger ein Kriminalroman, eher ein Buch voller Gefühlsturbulenzen mit vielen Wendungen. „Seerausch“ist aber auch eine Liebeserklärung an den Bodensee. „Der See! Und die Berge dazu. Mein Gott, so viel Schönheit rund um mich! Alles so surreal schön, dass es fast schon wehtut“, sagt Isabel einmal. Ins Reine kommt sie nicht mit sich – der Roman hört so plötzlich auf, wie er begonnen hat.
„Seerausch“(ISBN 978-3-83922859-3) von Marlies Grötzinger ist seit Mittwoch, 10. März, erhältlich. Der Roman erscheint im GmeinerVerlag, hat 341 Seiten und kostet 14 Euro. Corona-bedingt finden zeitnah keine Buchvorstellungen oder Lesungen statt.