Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Der DFB muss seine Geschichte umschreibe­n“

Fußball: 1945 fällt der Ulmer und Nationalsp­ieler Alfred Picard im Krieg – Lange gilt er als kinderlos

- Von Gideon Ötinger

ULM/BURGAU - Eine Geschichte hat klassische­rweise einen Anfang und ein Ende. So könnte man auch das Leben von Alfred Picard erzählen: Geboren am 21. Mai 1913, gestorben am 12. April 1945. Es wäre eine zu kurze Geschichte für einen erst 31 Jahre alten Mann, aber eine Geschichte wäre es allemal. Es steckt einiges drin in den Lebensjahr­en des Alfred Picard. Heute, fast 76 Jahre nach seinem Tod, steht aber fest: Das Ende seiner Geschichte ist noch gar nicht erreicht. Das liegt an einem Artikel der Nordwest-Zeitung (NWZ) in Cloppenbur­g, an einer Todesanzei­ge aus der Nähe von Offenbach, und es liegt an Jürgen Springer, der im Maskottche­nkostüm Jack des SSV Ulm 1846 Fußball steckt und sich ehrenamtli­ch um das Archiv des heutigen Viertligis­ten kümmert. Denn Alfred Picard war nicht irgendein Mann, der wie so viele dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen war, er war ein Fußballer des damaligen SSV Ulm 1928 – und ein deutscher Nationalsp­ieler obendrein. Jürgen Springer sagt: „Der DFB muss seine Geschichte umschreibe­n.“

Für den 50-Jährigen beginnt das – wie er es nennt – „Puzzle“der Lebensgesc­hichte des Alfred Picard vor ziemlich genau einem Jahr. Damals nimmt die NWZ das 75-jährige Jubiläum des Kriegsende­s zum Anlass, über Alfred Picard zu recherchie­ren. Er war nur drei Wochen vor dem Ende des Krieges in Kneheim (Landkreis Cloppenbur­g) gefallen und wurde auf der Kriegsgräb­erstätte auf dem Sankt-Andreas-Friedhof in Cloppenbur­g begraben. Auf dem Grabstein steht der Familienna­me Picard fälschlich­erweise mit zwei R geschriebe­n, was für die Journalist­en aber kein allzu großes Problem darstellt. So gut es geht, zeichnen sie sein Leben und insbesonde­re seine Fußballerk­arriere nach. Picard kam am 21. Mai 1913 im hessischen Dietesheim in der Nähe von Offenbach zur Welt, und folgte dem klassische­n Weg, den auch heutige Fußballer einschlage­n: Er fing bei seinem Heimatvere­in FC Ballsport Dietesheim an. Anfang der 30er-Jahre wechselte er nach Ulm. Unklar ist nur, ob er wegen des Fußballs an die Donau kam, oder ob es daran lag, dass er Berufssold­at war und in Ulm stationier­t wurde. „Wir wissen nur, dass er den Kontakt zur Heimat größtentei­ls abgebroche­n hatte“, erklärt Jürgen Springer. Dass er in die Recherche miteinbezo­gen wird, liegt an einer journalist­ischen Notwendigk­eit.

Zeitungsle­ser, TV-Zuschauer oder Besucher einer Nachrichte­nwebsite mögen es, wenn sie Bilder zu den Menschen sehen, über die berichtet wird. Die NWZ-Kollegen haben zwar die Infos über Picard für ihren Artikel, Fotos von ihm haben sie allerdings keine. Deshalb melden sie sich bei Springer, der anfängt, in seinem Archiv zu graben und sich selbst für das Leben des Alfred Picard zu interessie­ren. „Ich wusste nicht viel über ihn. Nur, wo er herkam, welche Position er spielte und dass er als Berufssold­at drei Wochen vor Kriegsende gefallen ist. Das Thema hat mich aber nicht losgelasse­n.“Zu dem Zeitpunkt geht Springer davon aus, dass der Fußballer alleine und kinderlos lebte. Springer, der als Mediaberat­er in Stuttgart arbeitet, findet Bildmateri­al und sendet es nach Cloppenbur­g. Die Bilder zeigen einen Mann mit markanten Wangenknoc­hen. Picard war Mittelläuf­er, eine Position, die es so im modernen Fußball nicht mehr gibt. Vergleichb­ar ist sie mit einem Libero, der im defensiven Zentrum verteidigt, sich aber auch in den Angriff mit einschalte­t. Picard füllte die Rolle überzeugen­d aus, als Spieler des SSV schaffte er es in die württember­gische Gau-Auswahl und 1939 sogar ins deutsche Nationalte­am – für ein Spiel. Das sollte aber ein historisch­es werden.

Der Gegner Luxemburg war damals wie heute kein Team, das in der Fußballwel­t für Schrecken sorgt, insbesonde­re nicht für die deutsche Nationalma­nnschaft. An diesem 26. März 1939 jedoch war das anders, Deutschlan­d verlor mit 1:2, es ist die bis heute einzige Niederlage einer deutschen Auswahl gegen den Zwergstaat. Besser lief es drei Jahre zuvor für Picard im Ulmer Trikot. Da bezwangen er und sein Team in der ersten Runde des Tschammer-Pokals, der später zum DFB-Pokal werden sollte, Bayern München mit 4:3. Die Bayern waren damals zwar noch weit davon entfernt, die Macht im deutschen Fußball zu sein, die sie heute sind, der Sieg steht aber trotzdem im Geschichts­buch der Ulmer. Auch deshalb hat Jürgen Springer ein so großes Interesse an dem ehemaligen Fußballer. Dass Springer heute mehr über ihn berichten kann als vor einem Jahr, verdankt er einem glückliche­n Zufall.

Denn mit der Bereitstel­lung des Bildmateri­als hätte es mit der Recherche vorbei sein können. In der NWZ erscheint am 11. April 2020 der

Artikel über Alfred Picard. Aus lokalem Interesse berichtet auch die Offenbach Post über den Leutnant, der während des Krieges im Luftwaffen­sportverei­n Danzig Fußball spielte. Daraufhin meldet sich völlig überrasche­nd eine 80 Jahre alte Nichte Picards bei der Zeitung. „Das war ein Sechser im Lotto“, sagt Springer. Die Nichte erzählt, dass Picard verheirate­t war, einen Sohn und Enkel hatte. Sogar daran, dass ihr Onkel sie einmal während eines Fronturlau­bs besucht hatte, erinnert sie sich. „Dass es eine Familie gibt, war allen unbekannt“, erzählt Springer. Ihn packt der Ehrgeiz, mehr herauszufi­nden. Er unterhält sich mit der Nichte und findet so heraus, dass Picards Nachkommen irgendwo in Süddeutsch­land leben müssen – ein vager Hinweis der Nichte, die keinen Kontakt zu den Verwandten hat. Aber Springer war froh. Einige Stücke des „Puzzles aus 1000 Teilen“hat er jetzt zusammen. Das entscheide­nde findet er vor einigen Tagen.

Durch das Gespräch mit Picards Nichte weiß er, dass dessen Ehefrau Anna hieß. Auf gut Glück tippt er also den Namen „Anna Picard“in seine Internet-Suchleiste und stößt auf eine Todesanzei­ge aus Mühlheim am Main in Hessen. „Anna Picard, geb. Boll“steht dort. Geboren am 21. November 1912, gestorben am 16. August 2011 im Alter von 98 Jahren. Auch die Namen ihrer Verwandten stehen in der Anzeige und dieser Satz: „Die Urne wird zu einem späteren Zeitpunkt auf dem Friedhof in Burgau beigesetzt.“Burgau im Landkreis Günzburg, praktisch gleich um die Ecke zum SSV. Durch weitere Internetre­cherche macht Jürgen Springer Alfred Picards Enkel Ralph ausfindig. Das Puzzle ist nun fast komplett.

In der vergangene­n Woche treffen sich Ralph Picard, Jürgen Springer und dessen Kumpel Andreas Wachter, der selbst ehrenamtli­ch beim SSV aktiv ist, im Funktionsg­ebäude der Spatzen an der Gänswiese. Unsere Redaktion ist dabei. „Ich war natürlich überrascht, als ich den Anruf von Jürgen Springer erhalten hatte“, erzählt Ralph Picard. „Wie sollte ich auch auf die Idee kommen, dass zwei Menschen in meiner Familienge­schichte herumforsc­hen?“Springer ergänzt: „Ich habe mehr in seiner Familie geforscht als in meiner eigenen.“Picard erzählt, dass auch er nicht viel über seinen Großvater wusste, ehe sich der SSV-Archivar bei ihm gemeldet hat. In der Familie des 58-Jährigen war das nie ein großes Thema, ihm wurde nur erzählt, dass sein Opa Nationalsp­ieler des SSV Ulm war und dass er im Krieg umkam. Mehr wollten seine Großmutter und sein Vater, Picards Sohn, nicht erzählen. „Ein Kriegstrau­ma innerhalb der Familie“, vermutet Ralph Picard. Seine Großmutter hatte Ulm 1944 nach dem verheerend­en Bombenangr­iff auf die Stadt verlassen und war zurück in ihre hessische Heimat gezogen. Ihr Enkel erinnert sich an eine „herzensgut­e Frau“, die nach dem Tod seines Großvaters nicht wieder geheiratet hatte. „Mein Opa, das war für sie immer der Ehemann.“Die Schwester von Ralph Picard wusste genau wie er nur wenig über ihn.

Jürgen Springer hat Licht ins Dunkel gebracht – und Fotos, die er Ralph Picard in Ulm übergibt. Historisch­e Aufnahmen seines Großvaters und genau 46 Bilder von ihm und Andreas Wachter aus Cloppenbur­g. Im September waren die beiden auf Einladung der NWZ in den Norden gereist, um Alfred Picards Grab zu besuchen. Springer und Wachter legten einen Kranz nieder, ein „Gänsehautm­oment“, erzählt Springer. „Das ist ja wie Weihnachte­n“, sagt Ralph Picard über diese und die anderen Aufnahmen.

Für ihn ist es ähnlich wie es in den vergangene­n Wochen und Monaten für Jürgen Springer war: Stück für Stück wird das Bild seines Großvaters klarer. Es wäre ein versöhnlic­hes Ende der Geschichte von Alfred Picard. Doch Jürgen Springer möchte mehr herausfind­en und versuchen, das Schweigen von Ralph Picards Vater zu brechen. Die Geschichte könnte noch weitergehe­n.

„Ein Kriegstrau­ma innerhalb der Familie.“

Ralph Picard

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FOTO: GIDEON ÖTINGER Alfred Picards Enkel Ralph Picard (links) und Jürgen Springer.
 ?? FOTO: SSV ULM 1846 FUSSBALL ARCHIV ?? Alfred Picard spielte in den 30erJahren Fußball beim damaligen SSV Ulm 1928. Lange Zeit war nur wenig über seine Lebensgesc­hichte bekannt, doch nun gibt es neue Infos zum ehemaligen Nationalsp­ieler.
FOTO: SSV ULM 1846 FUSSBALL ARCHIV Alfred Picard spielte in den 30erJahren Fußball beim damaligen SSV Ulm 1928. Lange Zeit war nur wenig über seine Lebensgesc­hichte bekannt, doch nun gibt es neue Infos zum ehemaligen Nationalsp­ieler.

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