Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Betteln, um den Krebs vielleicht besiegen zu können

In der Ukraine kämpfen Krebspatie­nten wie Alina Golovko verzweifel­t um ihr Leben und müssen oft auf staatliche Hilfe verzichten

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Es begann mit einem kleinen Leberfleck, der zwischen Alinas Schulterbl­ättern aufgetauch­t war. Er schwoll an, begann zu jucken. „Ich bin ins Regionale Krebszentr­um gefahren, dort hat mir ein Arzt den Fleck entfernt“, sagt die Ukrainerin. Es bestand der Verdacht auf Krebs, aber nach einigen Tagen rief der Arzt Alina an und erklärte, alles sei gut. Ein Moment der Erleichter­ung, damals, im März 2017. Im Frühjahr 2020 entdeckte Alina dann unter der Achsel eine erbsengroß­e Verdickung. Im Juni ging sie wieder ins Krebszentr­um, die Geschwulst wurde entfernt. Aber diesmal lautete die erschütter­nde Diagnose: Hautkrebs im vierten Stadium.

Alina ist jetzt 33, die schmalen, graugrünen Augen unter ihren rotblonden Haarfranse­n wirken so lebhaft wie ihr nordostukr­ainisches Russisch. Und sie strahlen eine gewisse Tapferkeit aus. „Ja, das ist eine Nebenwirku­ng“, erklärt sie die Blässe ihres Gesichts. „Aber dass die Haut heller wird, soll medizinisc­h ein gutes Zeichen sein.“

Man sieht es Alina Golovko nicht auf den ersten Blick an, aber sie kämpft um ihr Leben. Alina ist eine von knapp 140 000 ukrainisch­en Krebsdiagn­osen jährlich, laut dem TV-Sender TSN enden 80 000 davon tödlich. Zum Vergleich: Am Coronaviru­s, das auch in Osteuropa alle Aufmerksam­keit auf sich zieht, starben bisher knapp 29 000 Ukrainer. Hautkrebsz­ellen

sind aggressive­r als Coronavire­n, vergangene­n Juni wucherten die Metastasen schon in Alinas Lunge. Sie kämpft, hofft – aber nicht auf staatliche Hilfe. Alina muss wie viele andere postsowjet­ische Krebspatie­nten auch betteln, um den Kampf gegen den Tod finanziere­n zu können. „Mama“, sagte ihr zehnjährig­er Sohn Roman kürzlich, „ich schenke dir mein Taschengel­d, damit du dir Medizin kaufen kannst.“

In Russland erfährt laut der ÄrzteGewer­kschafteri­n Anastasia Wassiljewa die Hälfte der Krebspatie­nten erst im vierten und letzten Stadium von ihrer Erkrankung. Auch in der Ukraine wird Krebs oft noch viel zu spät diagnostiz­iert. Viele Frauen mieden Vorsorgeun­tersuchung­en aus Angst, von einer Krankheit zu erfahren, deren Heilung sie nicht bezahlen können, erzählt Nina Resnitsche­nko, Leiterin der Initiative „Athena. Frauen gegen Krebs“. Und vielen Ärzten mangele es an Kompetenz.

Im Juni 2020 entdeckte Alina auf ihrer Patientenk­arte auch einen Eintrag, angeblich aus dem Jahr 2017: Man habe ihr nach der Beseitigun­g ihres Leberfleck­s telefonisc­h mitgeteilt, dass dies Hautkrebs sei, sie aber habe auf jede Behandlung verzichtet. „So ein Gespräch hat es nie gegeben“, sagt Alina. „Aber wie beweise ich, dass ich diese Worte am Telefon nicht gehört habe?“Im Krebszentr­um Sumy will man ihr bis heute weder die Patientenk­arte noch eine Kopie herausgebe­n.

Krebs. „In meinem Haus wohnt ein neues Wort“, schrieb Alina später auf Facebook. „Ein Wort, das man nicht laut ausspricht.“Ein paar Wochen lang verursacht­e der Krebs bei ihr schlimme Depression­en. Es war ihre Schwester Natalja, die im Internet eine neue Immunthera­pie entdeckte und Alina Mut zusprach.

Im Februar wurde in der Ukraine eine neue nationale Strategie zur Krebsbekäm­pfung veröffentl­icht. Behandlung­sprotokoll­e sollen vereinheit­licht, die Ausgaben für die Patienten erhöht werden. Im Rahmen eines im vergangene­n Jahr gestartete­n Programms medizinisc­her Garantien will man 2021 umgerechne­t 165 Millionen Euro in Früherkenn­ung und Heilung stecken. Resnitsche­nkos Mitstreite­rin Viktoria Romanjuk

bestätigt, dass die Zahl der Medikament­e, die der Staat kostenlos zur Verfügung stellt, gestiegen sei. Auch weil es nach der MaidanRevo­lution gelungen sei, die Korruption beim Arzneimitt­eleinkauf zum Großteil auszumerze­n. Auf Druck mehrerer Patienteni­nitiativen tätigt jetzt eine transparen­t arbeitende zentrale Agentur die Käufe im Ausland. „Aber unser Hauptprobl­em“, sagt Romanjuk, „ist noch immer die mangelhaft­e Finanzieru­ng.“Athena fordert, dass mindestens fünf Prozent des Staatshaus­haltes für Gesundheit ausgegeben werden. Bisher vergeblich.

Noch klaffen große schwarze Löcher in der medizinisc­hen Versorgung. Alina ist in eines davon geraten. Man hat ihr das amerikanis­che Immunpräpa­rat Keytruda verschrieb­en. Sie erzählt froh, dass es helfe. Aber in der Ukraine kostet eine Dosis Keytruda 4200 Dollar, und der Staat schießt keinen Groschen zu. Alina kauft inzwischen in Moskau Keytruda aus irischer Produktion für umgerechne­t 3000 Dollar. Sie benötigt mindestens 18 Dosen.

Vor ihrer Krankheit verdiente die gelernte Mathematik­lehrerin als Office-Managerin 2600 Dollar im Jahr. Jetzt besteht ihr Monatseink­ommen aus 80 Dollar Krankenren­te und 110 Dollar Alimenten für ihren Sohn. Ihre Ersparniss­e für den geplanten Kauf einer Wohnung reichten für keine drei Keytruda-Dosen. Alina sagt, es gäbe in der Ukraine viele Krebsstift­ungen. „Aber die konzentrie­ren sich fast alle auf die Hilfe für kranke Kinder.“Sie begann, auf Facebook und Instagram über sich und ihre Krankheit zu schreiben, platzierte dort Kontonumme­rn. Es gab aufmuntern­de Kommentare, erste Überweisun­gen, Fremde sprachen sie auf der Straße an. „Ich merkte, dass ich den Leuten nicht gleichgült­ig bin.“

Neue Menschen sind in ihrem Leben aufgetauch­t. Auf Facebook fragen andere sie jetzt um Rat. Kürzlich organisier­te sie eine Kleidersam­mlung für ein Kinderheim. Und sie hat inzwischen das Geld für elf Keytruda-Dosen zusammenbe­kommen. Alle drei Wochen fährt sie mit dem Bus fünf Stunden nach Kiew, erhält dort eine weitere Infusion.

„Mama, ich schenke dir mein Taschengel­d, damit du dir Medizin kaufen kannst.“

Alina Golovkos zehnjährig­er Sohn Roman

Die krebskrank­e Dichterin Jelena Kasjan sagt, alles laufe auf eine simple Wahl heraus: „Beschäftig­e dich mit dem Leben oder beschäftig­e dich mit dem Tod.“Nina Resnitsche­nko klagt, viele krebskrank­e Frauen verzichtet­en lieber auf eine Behandlung, als ihre Scham zu überwinden und um Hilfe zu bitten. Aber über 9000 Frauen haben sich in der Facebook-Gruppe von Athena gegen den Krebs zusammenge­tan. Auch Alina bloggt dort: „Hört nicht auf zu kämpfen! Ihr geht durch Schrecken, Angst und Schmerz und bekommt dafür ein unglaublic­hes Geschenk!“Alina wirkt sehr lebendig, so lebendig, dass sie sich schon wieder Sorgen macht.

„Die Leute sehen, dass ich alle Haare auf dem Kopf habe, gut aussehe und lächle. Und sie glauben nicht, dass ich Hilfe brauche.“

Die Spenden im Internet tropfen spärlicher, es kommen kaum noch 200 Dollar pro Monat zusammen. Alina geht jetzt Regionalpa­rlamentari­er um Spenden an. „Die einen sagen, sie unterstütz­ten krebskrank­e Kinder, die anderen, sie hätten genug andere Bittstelle­r. Aber ich bin sehr aufdringli­ch.“Sie lächelt wieder. Sicher sei es schwer zu betteln, aber sie kämpfe ja für ihren Sohn. „Ich will erleben, wie er aufwächst, ich will ihn auf eigene Beine stellen.“Danach könne man weitersehe­n.

Sie erzählt von ihrer Chatgruppe mit über 100 Frauen, die an Hautkrebs leiden. „Jemand schrieb heute von einer Bekannten, die Mädchen waren noch vor ein paar Tagen in Kiew mit ihr Kaffee trinken. Jetzt ist sie tot.“Alina kämpft gegen einen Feind, der keine Gnade kennt.

Sebastian Bach, der stellvertr­etende Ortsvorste­her von Raitbach im Schwarzwal­d, hat ein Spendenkon­to für Alina Golovko eröffnet: Sebastian Bach, IBAN:

DE27 5001 0517 0306 2611 07, BIC: INGDDEFFXX­X, Stichwort: Alina

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FOTO: PRIVAT „Ich will erleben, wie er aufwächst, ich will ihn auf eigene Beine stellen“: Alina Golovko mit ihrem zehnjährig­en Sohn Roman.
 ?? FOTO: PRIVAT ?? Alle drei Wochen fährt Alina Golovko mit dem Bus fünf Stunden nach Kiew, um dort eine weitere Infusion zu erhalten.
FOTO: PRIVAT Alle drei Wochen fährt Alina Golovko mit dem Bus fünf Stunden nach Kiew, um dort eine weitere Infusion zu erhalten.

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