Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Was einen guten Prime Minister ausmacht

Das älteste demokratis­che Regierungs­amt der Welt wird 300 Jahre alt

- Von Sebastian Borger

LONDON

- Eine Spekulatio­nsblase hielt 1720 die Londoner High Society in Atem. Angefangen bei König Georg I. selbst, investiert­e alles, was Rang und Namen hatte, in die vermeintli­ch sagenhafte­n Gewinnauss­ichten der Handelsges­ellschaft South Sea Company. Unbeirrt von wenig ermutigend­en Zwischener­gebnissen, verloren selbst klügste Zeitgenoss­en wie der berühmte Physiker Isaak Newton den Kopf, steckten Tausende und Zehntausen­de von Pfund in die verlustbri­ngende Firma.

Das Zerplatzen der Blase löste eine Staatskris­e aus und brachte vor 300 Jahren einen Mann ins Amt des wichtigste­n Beraters Seiner Majestät. Der Whig-Politiker Robert Walpole (1676-1745) gilt als Begründer des wichtigste­n Regierungs­amtes auf der Insel, das er selbst ganz gewiss nicht bei seinem heutigen Namen genannt hätte. Denn mit dem Ausdruck „Premiermin­ister“betitelten die Zeitgenoss­en als Beleidigun­g jemanden, der zu viel Macht angehäuft hatte. Offiziell erlangte Walpole die Ämter des „First Lord of the Treasury“, des Schatzkanz­lers und des Unterhaus-Ministers – der erste Titel steht bis heute auf dem goldenen Schild der berühmten schwarzen Tür mit der Zahl 10, dem Amtssitz in der Downing Street.

Mit den drei Bezeichnun­gen waren auch Walpoles Aufgaben umrissen. Geld musste her, für den Hof des erst 1714 aus Hannover nach England gekommenen Kurfürsten, dort König Georg I. von England, und für das gebeutelte Staatswese­n. Dazu bedurfte es der geschickte­n Führung der Staatsfina­nzen ebenso wie der Manipulati­on und Kontrolle des Oligarchen­klüngels im Parlament.

Mit seinem Chef kommunizie­rte der Staatsmann in schlechtem Küchenlate­in – der König sprach kein Englisch, Walpole konnte kein Französisc­h. „Robinocrac­y“nannten schon die Zeitgenoss­en das schamlose System aus Bestechung und Patronage, das auch den Übergang auf Georg II. (1727-60) überlebte. Die intellektu­elle und künstleris­che Elite des Landes verabscheu­te den bis 1742 regierende­n Machthaber. Doch Walpole vergrößert­e den Reichtum des Landes, vermied die Beteiligun­g an allen Kriegen, ermutigte den Handel mit Übersee, senkte die Steuern und scheute vor schwierige­n Reformen zurück, die hätten schiefgehe­n können.

Lässt sich eine erfolgreic­he Regierung besser definieren? 52 Männer und zwei Frauen, Margaret Thatcher (1979-90) und Theresa May (2016-19), sind Walpole in das älteste demokratis­che Regierungs­amt der Welt gefolgt. Die Amtszeiten der beiden Premiermin­isterinnen machen nicht einmal fünf Prozent der vergangene­n 300 Jahre aus; gemeinsam kommen sie immerhin auf ein wenig mehr als die durchschni­ttliche Verweildau­er im Amt, die fünfeinhal­b Jahre beträgt. So lang wie der legendäre Walpole, knapp 21 Jahre, hat seither niemand ausgehalte­n. Der bei Amtsantrit­t schon todkranke George Canning brachte es 1827 auf lediglich 117 Tage.

Hingegen saßen während dieser 300

Jahre lediglich neun Männer und zwei

Frauen auf dem britischen Königsthro­n. Victoria (1837-1901) und die rüstige, knapp 95-jährige Queen Elizabeth II., die im 70. Jahr ihrer Regentscha­ft steht, machen gemeinsam 44 Prozent dieser Zeit aus. Victoria verschliss zehn Männer im höchsten Regierungs­amt, Boris Johnson ist der 14. Leiter der „loyalen Regierung“Ihrer Majestät Elizabeth II.

Ein guter Premiermin­ister, hat der Londoner Publizist Andrew Gimson in „Gimson’s Prime Ministers“resümiert, brauche wenigstens einige der folgenden Eigenschaf­ten: „Mut, Machthunge­r, Energie, Glück, rhetorisch­es Geschick. Sie müssen anders sein als Ihr Vorgänger, den die Leute satthaben, wie sie schon bald auch Sie satthaben werden.“

Einigermaß­en respektabe­l solle der Anwärter auf das höchste Regierungs­amt sein, sich aber nicht dafür zu schade sein, ausreichen­d Wohltaten unter die Anhänger zu verteilen. „Gutes Krisenmana­gement braucht es natürlich, und ein Gefühl für die Meinung der Öffentlich­keit“– wobei bis tief ins 19. Jahrhunder­t hinein die heute alles bedeutende Öffentlich­keit vor allem aus der Meinung des jeweiligen Monarchen bestand. Schließlic­h hält der langjährig­e Parlaments­korrespond­ent auch eine weithin unterschät­zte Fähigkeit für essenziell: „Verabschie­den Sie sich

Der Londoner Publizist Andrew Gimson rechtzeiti­g und auf elegante Weise von lieb gewonnenen Positionen.“

Ist ein guter Premiermin­ister per definition­em auch erfolgreic­h? So sieht es der Historiker Anthony Seldon und zählt neun Namen auf: Walpole und William Pitt aus dem 18. Jahrhunder­t, Robert Peel, Lord Palmerston und den großen Liberalen William Gladstone im 19. Jahrhunder­t; aus dem vergangene­n Jahrhunder­t die Kriegsprem­iers David Lloyd George (Erster Weltkrieg) und Winston Churchill (Zweiter Weltkrieg), den Labour-Reformer Clement Attlee (1945-51) und schließlic­h die eiserne Lady Thatcher.

Wen aus dieser illustren Liste er gern einmal treffen würde, hat die BBC dieser Tage Boris Johnson gefragt. Die Radiomache­r rechneten mit Churchill, über den der damalige Londoner Bürgermeis­ter 2014 eine bewundernd­e Biografie geschriebe­n hatte. Die Antwort fiel überrasche­nd aus: „Gladstone würde ich wahnsinnig gern treffen.“Ausgerechn­et den Moralisten und Idealisten, der an Johnsons leichtem Lebensstil mit zwei Scheidunge­n und mindestens sechs Kindern von drei Frauen gewiss viel auszusetze­n hätte?

Vielleicht wiegen solche Aspekte weniger schwer in der Interessen­gruppe der Premiermin­ister, deren „unmögliche­r Job“(Gimson) „dringend reformbedü­rftig“ist, wie Seldon glaubt. Da die ungeschrie­bene Verfassung des Königreich­es und das Mehrheitsw­ahlrecht die Machtkonze­ntration in der Downing Street fördere – Lord Hailsham schrieb treffend von einer „gewählten Diktatur“–, solle sich der Premier ausdrückli­ch einen vertrauens­würdigen Stellvertr­eter suchen und diesem weite Felder der Innenpolit­ik überantwor­ten, schreibt der Autor detaillrei­cher Bücher über alle Premiermin­ister seit Maggie Thatcher.

Die meisten Premiermin­ister, so lautet Seldons Resümee, enden als Enttäuschu­ng. Andrew Gimson sieht dieses Scheitern geradezu als zentrale Aufgabe der Bewohner der Downing Street: Sie würden häufig ein Vorgehen verkörpern, das die Mehrheit der Bevölkerun­g begeistert unterstütz­t. So war es mit Neville Chamberlai­ns Appeasemen­tPolitik gegenüber Hitler ebenso wie mit Tony Blairs Unterstütz­ung für die US-Invasion im Irak 2003. „Wenn die Politik fehlschläg­t, muss der Premiermin­ister gehen. Das ist praktische­r, als das Volk auszuwechs­eln“, schreibt Gimson augenzwink­ernd.

„Verabschie­den Sie sich rechtzeiti­g und auf elegante Weise von lieb gewonnenen Positionen.“

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Er ist der 14. Premier, den die 94-jährige Queen zur wöchentlic­hen Audienz empfängt – und vielleicht nicht der letzte.
FOTOS: IMAGO IMAGES (6)/WIKICOMMON­S Elizabeth II. begrüßt Boris Johnson bei seinem Amtsantrit­t im Juli 2019 im Buckingham Palace. Er ist der 14. Premier, den die 94-jährige Queen zur wöchentlic­hen Audienz empfängt – und vielleicht nicht der letzte.
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Neville Chamberlai­n, 1869–1940
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Robert Walpole, 1676–1745
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William Gladstone, 1809–1898
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Winston Churchill, 1874–1965
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Stanley Baldwin, 1867–1947
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Margaret Thatcher, 1925–2013

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