Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Isolation und Angst beeinträchtigen die Kreativität“
Forscher Rainer Holm-Hadulla über fehlende schöpferische Kraft im Lockdown und was dagegen hilft
BERLIN - Im Lockdown fehlt vielen Leuten die Inspiration. Alleine im Homeoffice, ohne den Austausch mit den Kollegen, fällt es vielen schwer, neue Ideen zu entwickeln. Andere Menschen wiederum mögen die Stille und können gerade in Zeiten der Kontaktbeschränkungen ihre kreative Ader ausleben. Und dann sind manche geradezu gezwungen, neue Geschäftsfelder zu erschließen, weil die alten im Lockdown kein Geld mehr bringen. Wie sich die Corona-Krise auf die berufliche Kreativität auswirkt und welche Unterschiede es dabei zwischen jüngeren und älteren Menschen gibt, darüber hat Wolfgang Milke mit dem Kreativitätsforscher Rainer HolmHadulla gesprochen.
Herr Holm-Hadulla, wir erleben derzeit zwei gegensätzliche Phänomene: Einerseits entwickeln Unternehmen, Kulturschaffende oder Gastronomen neue Ideen für Geschäftsmodelle, andererseits klagen Heimarbeiter, dass ihnen die Kreativität abhandengekommen ist. Wie passt das zusammen?
Die Reaktion hängt zuerst vom jeweiligen Tätigkeitsbereich ab. Arbeitet jemand mit Künstlicher Intelligenz oder als Autor einsam an einem großen Werk, kann die soziale Isolation eine Chance sein, sich ganz auf die Arbeit zu konzentrieren. Erzieher und Erzieherinnen und andere soziale Berufe wie beispielsweise darstellende Künstler und Künstlerinnen haben dagegen ganz schlechte Karten, weil sie auf Kommunikation und persönliche Resonanz angewiesen sind. Zweitens hängt es von der jeweiligen Phase kreativen Arbeitens ab. Studierende sammeln erst Erfahrungen und bereiten sich auf die kreative Leistungen vor. Sie müssen nicht nur Informationen sammeln, sondern auch sozial lernen. Das geht nur über Kontakte. Wenn dieser Erfahrungsaustausch fehlt, entsteht ein großer Mangel. Anders sieht es bei der 60-jährigen Professorin aus. Sie hat diese Erfahrungen und kann sie nun beispielsweise verarbeiten, indem sie ein Buch schreibt. Die Menschen sind je nach Alter und Tätigkeitsbereich vom Lockdown ganz unterschiedlich betroffen.
Viele Menschen fühlen sich ausgelaugt vom Lockdown. Warum fehlt plötzlich die schöpferische Kraft?
Kreativität wird häufig zu kurz nur als Inspiration, als Kuss der Muse gesehen. Das ist zwar ein wichtiger Teil, aber die Ideenfindung ist nur ein Aspekt. Es kommt darauf an, die Ideen auch durchzuarbeiten. Goethe hat gesagt: Genie ist Fleiß. Wenn Sie in den Lockdown-Alltag schauen, gibt es Bereiche, in denen Sie in der Ruhe Dinge erst ausarbeiten können. Ich habe im letzten Jahr so viel geschrieben wie noch nie in meinem Leben. Bei vielen, besonders Jüngeren
ist das anders, sie benötigen unmittelbare Kontakte. Doch die Polemik, Alt gegen Jung auszuspielen, ist schädlich. Man muss die unterschiedlichen Voraussetzungen akzeptieren und bei der Gestaltung des Lockdowns berücksichtigen. Das ist sehr schwierig, weil Politikerinnen und Politiker sehr viele Aspekte berücksichtigen und anschließend unterkomplexe Lösungen durchsetzen müssen.
Es gibt das Sprichwort „Not macht erfinderisch“. Trifft das derzeit zu?
Große Leistungen entstehen tatsächlich häufig in Notlagen. Die Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe ist zum Beispiel eine grandiose Leistung. In der Kunst sind aus Traurigkeit und Melancholie die größten Werke entstanden, von Goethes „Leiden des jungen Werther“bis zu „Angie“von den Rolling Stones. Die Not alleine reicht allerdings nicht aus. Es braucht ein Minimum an Sicherheit gebenden und bestätigenden Umgebungsbedingungen. Dazu gehören persönliche Kontakte und Freiräume. Soziale Isolation und übermäßige Angst hingegen beeinträchtigen die Kreativität.
Wie können Menschen die verloren gegangene Inspiration wieder erlangen oder dem drohenden Verlust begegnen?
Es gibt wirksame Strategien. Zunächst sollten die sozialen Ressourcen gepflegt werden, also Freundschaften, die Familie oder kleine Alltagskontakte. Auch hilft Disziplin, zum Beispiel Dinge zu erledigen, für die man keine Zeit haben wird, wenn alles wieder normal wird. Auch eine
ANZEIGE humorvolle, kritische Distanz zu sich selbst sollten Sie sich erhalten. Aber das alles geht nur in sicheren Verhältnissen. Wenn Sie nicht wissen, woher im nächsten Monat das Geld kommen soll, ist es eine schreckliche Zeit.
Kann der Mangel der jungen Leute, den Sie angesprochen haben, später wieder ausgeglichen werden?
Manches ja, manches nicht. Man wird vermutlich gar nicht die persönlichen und sozialen Ressourcen haben, alles nachzuholen. Deshalb muss man schon beim Lockdown mitdenken, was möglich ist. Doch wenn Politiker eine kreative Idee äußern, werden sie sofort gegrillt. Das führt zu einer Verarmung der öffentlichen Auseinandersetzung. Man beschwert sich über zu wenige kreative Lösungen, aber wenn einmal eine ungewöhnliche Idee geäußert wird, fällt eine erregte Öffentlichkeit sofort über sie her. Wenn das originelle und assoziative Denken ein Risiko darstellt, ist dies ein Kreativitätskiller.