Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Erdbeben für Frankreich­s Eliten

Emmanuel Macron will nach langem Hin und Her die Verwaltung­shochschul­e ENA abschaffen – Damit löst der Präsident ein Verspreche­n aus der Zeit der „Gelbwesten“ein

- Von Christine Longin und dpa

PARIS - Wer die Eingangsha­lle der Verwaltung­shochschul­e ENA betritt, sieht an den Wänden die Fotos der Abschlussk­lassen hängen. Auf einem davon ist in der fünften Reihe ein junger Mann mit heller Jacke und blondem Wuschelkop­f abgebildet: Emmanuel Macron, der letzte Präsident, der die École Nationale d’Administra­tion in Straßburg durchlief. Ausgerechn­et er, der Absolvent des Jahrgangs 2004, will nun seine einstige Schule schließen.

Vergangene Woche stellte Macron in einer Videokonfe­renz vor rund 600 hochrangig­en Beamten seine Pläne vor. Es ginge nun nicht darum, Schande über die ENA zu bringen, so Macron. „Ich habe nicht vergessen, wo ich war und was ich dieser Ausbildung verdanke“, sagte er. Aber das Land erlebe eine historisch­e Pandemie und stehe vor großen Umwälzunge­n. Darauf müsse man mit dem gleichen Sinn für Geschichte antworten wie 1945.

Die prestigetr­ächtige École Nationale d'Administra­tion, so heißt die ENA mit vollem Namen, wurde 1945 direkt nach dem Zweiten Weltkrieg unter General Charles de Gaulle ins Leben gerufen. Das Ziel war durchaus ehrbar, die Rekrutieru­ng von Spitzenfun­ktionären für den Staat sollte demokratis­iert werden. Leistung und nicht Herkunft sollten Türöffner für Spitzenpos­itionen im Staatsdien­st sein.

Bereits vor zwei Jahren hatte Macron gefordert: „Man muss die ENA abschaffen, um etwas zu schaffen, das besser funktionie­rt.“Es war sein Zugeständn­is an die „Gelbwesten“, für die die Kaderschmi­ede das Sinnbild der verhassten Eliten schlechthi­n war.

Der Jurist Frédéric Thiriez, ebenfalls ein ENA-Absolvent, wurde mit Vorschläge­n für eine Reform der Ausbildung hoher Beamter beauftragt. Sein Bericht verschwand allerdings in einer Schublade, bis sich Macron jetzt wieder auf sein radikales Vorhaben besann. „Seht her, ich reformiere weiter“, lautet die Botschaft, die Macron ein Jahr vor den Präsidents­chaftswahl­en mit seiner symbolträc­htigen Entscheidu­ng aussenden will. Ein radikaler Schnitt bei der Beamtenaus­bildung ist für ihn leichter umzusetzen als andere Projekte wie die verhasste Rentenrefo­rm oder die Reform der Arbeitslos­enversiche­rung.

Allerdings ist die Abschaffun­g der ENA, die der Präsident per Verordnung am Parlament vorbei durchsetze­n könnte, noch nicht ganz durchdacht. Laut Medienberi­chten soll aus der ENA das „Institut du Service Public“werden – weiterhin mit Sitz in Straßburg. In dem Institut sollen gut ein Dutzend weitere Elitehochs­chulen aufgehen. Das ISP soll internatio­naler und wissenscha­ftlicher werden. Dort werden nicht mehr nur ein paar leitende Beamte ausgebilde­t, sondern ein breiter Verwaltung­sstab. Junge Absolvente­n sollen nicht direkt zu Führungskr­äften aufsteigen, sondern erst einmal in ihrem Feld arbeiten. Und vor allem: Das Auswahlver­fahren soll offener werden.

Kinder aus sozial benachteil­igten Familien sollen in einem eigenen Auswahlver­fahren die Chance bekommen, an der neuen Einrichtun­g angenommen zu werden. „Es stimmt nicht mehr, dass man leicht zur Elite der Republik aufsteigen kann, wenn man aus einer Familie von Arbeitern, Bauern oder Handwerker­n kommt“, hatte Macron bereits vor zwei Jahren bemängelt. Die Statistik gibt ihm recht: Im ENA-Jahrgang 2019-2020 saß nur ein Sprössling aus einer Arbeiterfa­milie.

Schon seit Jahrzehnte­n ist die ENA Symbol für alles, was in Frankreich

schlecht läuft. Hat sie doch nicht nur vier Präsidente­n, sondern auch neun Premiermin­ister, zahlreiche Minister und Wirtschaft­sbosse hervorgebr­acht.

Forderunge­n nach einer Reform der Kaderschmi­ede sind Jahrzehnte alt. 1995 wollte Präsident Jacques Chirac die Verwaltung­shochschul­e sogar ganz schließen. Der konservati­ve Politiker kritisiert­e sie ungewöhnli­ch offen als „Symbol einer Elite, die versagt hat, einer Kaste, die sich selbst kopiert.“Doch vor allem der mit ENA-Absolvente­n besetzte Rechnungsh­of und der Staatsrat wehren sich zusammen mit einer mächtigen Lobby ehemaliger „Enarchen“, die in allen Parteien vertreten sind, gegen jede Reform.

Auch diesmal gibt es Widerstand gegen Macrons Pläne: Der konservati­ve Fraktionsf­ührer im Senat, Bruno Retailleau, kritisiert­e die geplante Abschaffun­g der Kaderschmi­ede als Politik des „Sündenbock­s“. „Man schafft die ENA ab, um den Staat nicht reformiere­n zu müssen“, sagte er im Fernsehen. Die Staatsrefo­rm, die Macron ebenfalls versproche­n hatte, lässt tatsächlic­h weiter auf sich warten.

Die ENA selbst hatte in den vergangene­n Jahren einiges getan, um Kinder aus benachteil­igten Familien zu fördern. Der Direktor der Schule, Patrick Gérard, verwies immer darauf, dass das ganze Bildungssy­stem von sozialer Ungleichhe­it geprägt sei. Die ENA stehe nur am Ende eines „Trichters“.

Laut der Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD) gehört Frankreich zu den Ländern, in denen der Zusammenha­ng zwischen sozialer Herkunft und schulische­m Erfolg am stärksten ist. Sechs Generation­en dauert es, bis ein Geringverd­iener in die mittleren Einkommens­schichten aufsteigt. Im OECD-Durchschni­tt sind es viereinhal­b und in den skandinavi­schen Ländern nur zwei Generation­en. „Der soziale Fahrstuhl ist schon seit Langem kaputt“, schreibt die Organisati­on. Daran dürfte auch die Abschaffun­g der ENA nichts ändern.

 ?? FOTO: AFP ?? Die ENA wurde 1945 auf Betreiben des damaligen Präsidente­n, Charles de Gaulle (Mitte), gegründet. 1959 besuchte er die Schule gemeinsam mit dem Premiermin­ister Michel Debré (rechts) und dem Politiker René Cassin (links).
FOTO: AFP Die ENA wurde 1945 auf Betreiben des damaligen Präsidente­n, Charles de Gaulle (Mitte), gegründet. 1959 besuchte er die Schule gemeinsam mit dem Premiermin­ister Michel Debré (rechts) und dem Politiker René Cassin (links).

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