Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Erdbeben für Frankreichs Eliten
Emmanuel Macron will nach langem Hin und Her die Verwaltungshochschule ENA abschaffen – Damit löst der Präsident ein Versprechen aus der Zeit der „Gelbwesten“ein
PARIS - Wer die Eingangshalle der Verwaltungshochschule ENA betritt, sieht an den Wänden die Fotos der Abschlussklassen hängen. Auf einem davon ist in der fünften Reihe ein junger Mann mit heller Jacke und blondem Wuschelkopf abgebildet: Emmanuel Macron, der letzte Präsident, der die École Nationale d’Administration in Straßburg durchlief. Ausgerechnet er, der Absolvent des Jahrgangs 2004, will nun seine einstige Schule schließen.
Vergangene Woche stellte Macron in einer Videokonferenz vor rund 600 hochrangigen Beamten seine Pläne vor. Es ginge nun nicht darum, Schande über die ENA zu bringen, so Macron. „Ich habe nicht vergessen, wo ich war und was ich dieser Ausbildung verdanke“, sagte er. Aber das Land erlebe eine historische Pandemie und stehe vor großen Umwälzungen. Darauf müsse man mit dem gleichen Sinn für Geschichte antworten wie 1945.
Die prestigeträchtige École Nationale d'Administration, so heißt die ENA mit vollem Namen, wurde 1945 direkt nach dem Zweiten Weltkrieg unter General Charles de Gaulle ins Leben gerufen. Das Ziel war durchaus ehrbar, die Rekrutierung von Spitzenfunktionären für den Staat sollte demokratisiert werden. Leistung und nicht Herkunft sollten Türöffner für Spitzenpositionen im Staatsdienst sein.
Bereits vor zwei Jahren hatte Macron gefordert: „Man muss die ENA abschaffen, um etwas zu schaffen, das besser funktioniert.“Es war sein Zugeständnis an die „Gelbwesten“, für die die Kaderschmiede das Sinnbild der verhassten Eliten schlechthin war.
Der Jurist Frédéric Thiriez, ebenfalls ein ENA-Absolvent, wurde mit Vorschlägen für eine Reform der Ausbildung hoher Beamter beauftragt. Sein Bericht verschwand allerdings in einer Schublade, bis sich Macron jetzt wieder auf sein radikales Vorhaben besann. „Seht her, ich reformiere weiter“, lautet die Botschaft, die Macron ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen mit seiner symbolträchtigen Entscheidung aussenden will. Ein radikaler Schnitt bei der Beamtenausbildung ist für ihn leichter umzusetzen als andere Projekte wie die verhasste Rentenreform oder die Reform der Arbeitslosenversicherung.
Allerdings ist die Abschaffung der ENA, die der Präsident per Verordnung am Parlament vorbei durchsetzen könnte, noch nicht ganz durchdacht. Laut Medienberichten soll aus der ENA das „Institut du Service Public“werden – weiterhin mit Sitz in Straßburg. In dem Institut sollen gut ein Dutzend weitere Elitehochschulen aufgehen. Das ISP soll internationaler und wissenschaftlicher werden. Dort werden nicht mehr nur ein paar leitende Beamte ausgebildet, sondern ein breiter Verwaltungsstab. Junge Absolventen sollen nicht direkt zu Führungskräften aufsteigen, sondern erst einmal in ihrem Feld arbeiten. Und vor allem: Das Auswahlverfahren soll offener werden.
Kinder aus sozial benachteiligten Familien sollen in einem eigenen Auswahlverfahren die Chance bekommen, an der neuen Einrichtung angenommen zu werden. „Es stimmt nicht mehr, dass man leicht zur Elite der Republik aufsteigen kann, wenn man aus einer Familie von Arbeitern, Bauern oder Handwerkern kommt“, hatte Macron bereits vor zwei Jahren bemängelt. Die Statistik gibt ihm recht: Im ENA-Jahrgang 2019-2020 saß nur ein Sprössling aus einer Arbeiterfamilie.
Schon seit Jahrzehnten ist die ENA Symbol für alles, was in Frankreich
schlecht läuft. Hat sie doch nicht nur vier Präsidenten, sondern auch neun Premierminister, zahlreiche Minister und Wirtschaftsbosse hervorgebracht.
Forderungen nach einer Reform der Kaderschmiede sind Jahrzehnte alt. 1995 wollte Präsident Jacques Chirac die Verwaltungshochschule sogar ganz schließen. Der konservative Politiker kritisierte sie ungewöhnlich offen als „Symbol einer Elite, die versagt hat, einer Kaste, die sich selbst kopiert.“Doch vor allem der mit ENA-Absolventen besetzte Rechnungshof und der Staatsrat wehren sich zusammen mit einer mächtigen Lobby ehemaliger „Enarchen“, die in allen Parteien vertreten sind, gegen jede Reform.
Auch diesmal gibt es Widerstand gegen Macrons Pläne: Der konservative Fraktionsführer im Senat, Bruno Retailleau, kritisierte die geplante Abschaffung der Kaderschmiede als Politik des „Sündenbocks“. „Man schafft die ENA ab, um den Staat nicht reformieren zu müssen“, sagte er im Fernsehen. Die Staatsreform, die Macron ebenfalls versprochen hatte, lässt tatsächlich weiter auf sich warten.
Die ENA selbst hatte in den vergangenen Jahren einiges getan, um Kinder aus benachteiligten Familien zu fördern. Der Direktor der Schule, Patrick Gérard, verwies immer darauf, dass das ganze Bildungssystem von sozialer Ungleichheit geprägt sei. Die ENA stehe nur am Ende eines „Trichters“.
Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gehört Frankreich zu den Ländern, in denen der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischem Erfolg am stärksten ist. Sechs Generationen dauert es, bis ein Geringverdiener in die mittleren Einkommensschichten aufsteigt. Im OECD-Durchschnitt sind es viereinhalb und in den skandinavischen Ländern nur zwei Generationen. „Der soziale Fahrstuhl ist schon seit Langem kaputt“, schreibt die Organisation. Daran dürfte auch die Abschaffung der ENA nichts ändern.