Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Vorfahrt fürs Rad
Der Tritt in die Pedale wird im Land fast schon ohne Rücksicht auf Verluste forciert – Auch Städte wie Aalen stellen dafür zig Millionen Euro zur Verfügung
AALEN - Schöne neue Radlerwelt: Auf Asphalt, der vielleicht ein halbes Jahr alt ist, tritt es sich leicht in die Pedale. Der Radweg führt einen knappen Kilometer entlang des Kocher Richtung Albtrauf. Was idyllischer klingt, als es ist. Links und rechts erstrecken sich nämlich die Hinterhöfe Aalener Gewerbebetriebe wie Textil-Triumph. Aber darum geht es nicht. Das Pedalieren auf dem rund drei Meter breiten und 600 000 Euro teuren Band ist in erster Linie kommod. Aufatmen, kein gehässiger Autofahrer drückt einen an den Rand. Verirrte Fußgänger und Langsam-Radler lassen sich durch Klingeln auf die Seite bitten.
Dass ein erschreckter Passant deshalb unwirsch „Halbdackel“hinterherruft, schmerzt zwar das Ego, aber auf dem Fahrrad befindet man sich ja gegenwärtig auf der politisch korrekten Seite – zumal in Baden-Württemberg, wo der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann die treibstoff-getriebene Individual-Mobilität unverdrossen als ewig gestrig beschimpft. Sein Credo: Autos mit Verbrennermotor sind Klimakiller. Das Ziel des überzeugten Radlers: „Wir wollen Baden-Württemberg bis 2030 zum fahrradfreundlichen Spitzenland machen und den Radverkehrsanteil auf 20 Prozent bringen.“
Über 120 Millionen Euro hat sein Ministerium in den vergangenen Jahren für den Radverkehr ausgegeben. Hinzu kommen im Land noch 33 Millionen Euro vom Bund. Sie flossen in Radwege entlang von Bundesstraßen. Kommunen konnten 2020 auf rund 58 Millionen Euro Förderung zurückgreifen, sollten sie an Projekte für Pedaleure denken – so viel wie noch nie. Aufbruchstimmung herrscht im Zeichen des einst als Drahtesel verunglimpften Gefährts.
Wer noch zu Zeiten aufgewachsen ist, als Daimlerfahren den gesellschaftlichen Aufstieg symbolisierte, staunt, wie sich die Gewichtungen auf der Straße verschieben. Radler-Strategen feiern Radschnellwege wie Motoristen einst Autobahnen. Rund 20 davon soll es bis 2030 im Land geben. Ist die Planung abgeschlossen, geht das Bauen voran. Wo gestern vielleicht noch Gras gewachsen ist, zieht sich schon heute ein befestigter Überland-Radweg durch die Landschaft. Schutzstreifen für die verletzlichen Pedaltreter engen vom Straßenrand her den Raum für Autos ein. „Bike & Ride“-Parkplätze entstehen. Abstellplätze für Autos verschwinden zugunsten von Radwegen. Verteuertes Innenstadtparken soll zu ökologischem Tun motivieren. Dem radlerischen Zeitgeist scheinen keine Grenzen gesetzt.
Selbst des Autofahrers traditionelle Schutzmacht ADAC traut sich offenbar nicht mehr, nachhaltig Widerstand zu leisten. Dieter Roßkopf, Vorsitzender des württembergischen Verbandes, warnt fast hilflos davor, „das Auto zu verteufeln und das Fahrrad hoch zu loben“. Er beschwört ein Miteinander. Sein Kollege Holger Bach, Leiter der Abteilung Verkehr und Umwelt, lobt sogar das Konzept der Radschnellwege. Sie seien geeignet, um Berufspendler „zum Umstieg vom Auto, beziehungsweise vom überfüllten öffentlichen Nahverkehr auf das Fahrrad zu bewegen“.
Folgerichtig arbeiten immer mehr Kommunen an Radler-Konzepten. In diese Riege gehört auch die Stadt Aalen. Historisch gesehen wurde sie in den Wirtschaftswunderjahren des vergangenen Jahrhunderts rund um die beschauliche
Altstadt mit breiten Straßen autogerecht umgestaltet. Längst ein Manko, lautet dazu das Urteil im Rathaus, selbst ein hässlicher Beton-Glas-Komplex aus den Zeiten der alten Bundesrepublik. Jedenfalls gehört Aalen seit sechs Jahren zur Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen in BadenWürttemberg. Im Herbst 2020 entschied der Gemeinderat, in den kommenden zehn Jahren rund 20 Millionen Euro für den Ausbau des Radwegenetzes auszugeben – nachdem schon zuvor einiges Geld für solch öko-angehauchte Projekte geflossen war.
Musterbeispiel für eine durchgreifende Radlerpolitik ist zwar allen voran das flache Karlsruhe. Dort soll die Innenstadt mittelfristig autofrei werden. Auch Freiburg und Konstanz mit ihrer großen
Studentenschaft gelten als Vorbilder der guten Radler-Tat. Die Stadt Aalen kann aber mithalten: Im Vergleich zu ihrer Größe und den knapp 70 000 Einwohnern befindet sie sich mit ihren Investitionen in der Spitzengruppe rad-affiner Südwest-Kommunen. Oberbürgermeister Thilo Rentschler von der SPD hat in der Vergangenheit auch immer wieder betont: „Der Stadt Aalen liegen die Bedürfnisse der Radfahrer am Herzen.“
Hinter diesen Worten versteckt sich durchaus die Idee, nicht nur Lustradlern Ausfahrmöglichkeiten zu bieten, sondern generell mehr Leute in den Sattel zu bekommen. Der besagte neue Fahrradweg am Kocher dient als Beispiel. Er ist das jüngste Etappenstück weitaus ambitionierterer Vorstellungen. Fährt man weiter, erreicht der Radler die
Industrieorte Unter- und Oberkochen, Letzterer vor allem als Standort des Optikkonzerns Zeiss und des Werkzeugspezialisten Leitz bekannt. Werktags strömen zahlreiche Pendler in diese Richtung und auch wieder retour. Warum künftig nicht verstärkt auf Fahrrädern?
„Viele Pendler wollen ihren täglichen Sport auch gerne mit dem Weg zur Arbeit verbinden. Dann sind auch Strecken mit zehn, 20 oder mehr Kilometern kein grundsätzliches Hindernis, um das Rad zu nutzen“, weiß etwa Gudrun Zühlke. Sie sitzt dem baden-württembergischen Landesverband des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs vor. Für Zühlke sind die Pendler ein schlagendes Argument, weshalb es auch auf dem Land dringend mehr Radwege brauche. Schließlich, so sagt sie, könne es Radfahrern auf der Straße nicht zugemutet werden, wenn Autos mit 100 Stundenkilometern an ihnen vorbeischießen würden.
Tatsächlich entstehen zunehmend solche Radwege hin zu stadtfernen Winkeln. Einige Beispiele: der Neubau bei Burghagel, einem unbedeutenden Dorf des Härtsfelds auf der östlichen Alb – oder auch die etwas ältere Strecke vorbei am Weiler Geiselharz, einer Etappe auf der Rauf- und Runterroute durchs allgäuerische-oberschwäbische Hügelland zwischen den Städten Wangen und Ravensburg. Wobei nur vereinzelt Radler gesichtet wurden. Aber was nicht ist, kann noch kommen – Worte, die grob die Haltung von Zühlke beschreiben.
Wobei sie Routenplanungen mit ambitionierten Anstiegen eher für ungünstig hält. Eventuell spielt dabei eine Prägung aus der Vergangenheit eine Rolle. Noch vor wenigen Jahren war schließlich Muskelkraft der einzige Antrieb des Fahrrades. Eine schweißtreibende Angelegenheit. Nun kann aber längst das E-Bike helfen. Die Nutzung von Rädern mit elektrischem Hilfsmotor „erhöht die Reichweite der Radfahrenden und macht damit das Fahrrad als Ersatz für Kraftfahrzeuge attraktiv“, meint Zühlke.
Sie und ihr Verband trommeln heftig für die neue Verkehrszeit. Nicht weniger laut meldet sich die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die sich in der Vergangenheit vor allem einen Namen im Kampf gegen Dieselfahrzeuge gemacht hat. Allein seit dem Jahreswechsel wurden von ihr in rund 240 Städten formale Anträge zur kurzfristigen Umwidmung von Straßenflächen in Radwege gestellt – übrigens auch in Aalen. Laut Umwelthilfe sind dafür örtliche Radbegeisterte an die Organisation herangetreten. Diese will generell den Druck auf die Kommunen erhöhen. DUH-Chef Jürgen Resch klagt: „Obwohl immer mehr Radfahrerinnen und Radfahrer auf den Straßen unterwegs sind, existieren in den meisten deutschen Städten keine ausreichend breiten, baulich abgegrenzten, geschützten Fahrradwege.“
Ganz oben auf der Agenda der Radler-Lobby: „Pop-up-Radwege“. Darunter sind vorübergehende Fahrspuren für Radler entlang normaler Straßen zu verstehen. Abgegrenzt werden sie durch Markierungslinien oder Baustellenbaken. Eben ein kostengünstiges Provisorium. Die Idee der Umwelthilfe oder auch des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs ist aber, dass solche Radstreifen „in einem späteren Schritt ordentlich und dauerhaft gebaut werden“.
Es sollen also aus Pop-up-Geschichten richtige Radwege entstehen, die nach Möglichkeit baulich vom Autoverkehr abgetrennt sind – etwa durch Bordsteine oder Grünstreifen. Das kostet wiederum teures Geld. Planungstechnisch kann die Umsetzung bis zu zehn Jahren dauern. Zudem muss erst einmal der Platz für eigenständige Radwege vorhanden sein. Schwierig in engen Altstädten. Auf dem Land sogar manchmal ökologisch heikel – vor allem, wenn für das Radeln Natur zubetoniert werden müsste, der Flächenfraß begünstigt würde. Deshalb gibt es zwei simple Lösungen für Permanent-Projekte, eine Art Dauer-Pop-up. Bei breiter Straße
ist es ein sogenannter Fahrradstreifen, mittels einer durchgehenden Linie von der Fahrbahn separiert und für Autos tabu. Mangelt es an Straßenbreite, läuft die Lösung auf einen amtlich weniger regulierter Schutzstreifen hinaus. Ihn kennzeichnen gestrichelte Trennlinien.
Solche Schutzstreifen lassen sich inzwischen oft finden. Das Verkehrsministerium in Stuttgart spricht von einer „bewährten Regelführungsform des Radverkehrs“. Autofahrer dagegen beklagen das Verengen bereits schmaler Straßen. Manch einer flucht angesichts gestrichelter Markierungslinien über irritierende Verkehrsführungen. Ist nämlich kein Radler da, kann ein Fahrzeug in solche Schutzstreifen hineingesteuert werden. Was aber viele Automobilisten laut Verkehrsforschung vorsichtshalber vermeiden – schon um nichts falsch zu machen. Sie bleiben in der Straßenmitte, verknappen den Platz bei Gegenverkehr. Durchaus gewollt von Radstrategen. In der Folge fahren Autos langsamer und gewähren Radlern ausreichend Raum.
Das Ausbremsen der Karossen-Lenker lässt sich aber noch steigern. Hierzu gibt es ein schönes Beispiel zwischen den Fildern und dem Schönbuch südlich von Stuttgart. Besagte Strichlinien engen eine Überlandstraße ein. So weit, so gut. In einer ansteigenden S-Kurve ist aber zudem jedes Überholen eines Fahrrades untersagt. Während des Berufsverkehrs droht deshalb fast schon Stillstand. Wie es in einer Pressemitteilung steht, freut sich jedoch Filderstadts Oberbürgermeister Christoph Traub von der CDU über die Regelung: Er sei froh, dass seine Kommune „in das Landesprogramm der Modellstädte für außerörtliche Schutzstreifen aufgenommen wurde“.
Auch Aalen hat stricheln lassen – bisher vor allem auf den Straßen am Altstadtrand. Um zu zeigen, wer zuerst darauf fahren darf, wurden sogar Räder auf die Straße gepinselt. Teilweise leider etwas schwer erkennbar. Manchmal hören die Schutzstreifen auch scheinbar unmotiviert auf. „Es wäre schön, wenn sich da mehr tun würde“, meint Sabine Neusüß, den Fahrradhelm fest auf dem Kopf gedrückt und den Einkaufskorb hinter den Sattel montiert.
Beim Eigenversuch ergibt sich zudem die bedrückende Erfahrung, dass Autos den Radler oft eng überholen – vielleicht nicht so knapp wie ohne Abtrennungsstreifen, aber doch ausreichend für ein flaues Gefühl im Magen. Was wiederum ein Argument für den Bau abgetrennter Radwege ist. Zufälligerweise bietet sich von Aalen auf die Alb eine schon vorhandene Trasse weitab vom Autoverkehr an. Auf ihr zuckelte bis 1972 eine im Volksmund als Schättere bekannte Schmalspurlokalbahn rauf und runter. Ende vergangenen Jahres beschloss der Aalener Gemeinderat, die Trasse für Radler freizugeben. Das Problem: Streckenweise ordentlich asphaltiert, war sie zuvor schon von Fußgängern belegt. Weshalb es neuen Streit gibt – in diesem Fall erregen sich jene, die auf Schusters Rappen unterwegs sind. Sie dürfen zwar weiterhin dort laufen, fürchten aber ihre Vertreibung durch „egoistische, rücksichtslose Radler“, wie es in örtlichen Protestnoten heißt.
Winfried Hermann, Landesverkehrsminister
„Wir wollen BadenWürttemberg bis 2030 zum fahrradfreundlichen Spitzenland machen.“