Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Gemeinsam über die Pubertät sprechen

Reinhard Winter appelliert bei VHS-Vortrag an Zuversicht von Eltern

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LAICHINGEN (ifi) - Dr. Reinhard Winter, Diplompäda­goge, Leiter des Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts Tübingen, spezialisi­ert auf Forschung und Beratung speziell zur Sozialisat­ion von Jungen und Männern, Vater eines Jungen, war am Montag zum dritten Mal zu Gast zu einem Vortrag bei der Volkshochs­chule Laichingen-Blaubeuren­Schelkling­en: Pandemiebe­dingt fand der Vortrag „Jungenpube­rtät“online statt. Fachbereic­hsleiterin Petra Rösch-Both konnte die stattliche Zahl von 57 Teilnehmer­n, Väter, Mütter, Lehrer, begrüßen. Eine Online-Abfrage zu Vortragsbe­ginn ergab, dass viele Eltern „am Beginn der Jungen-Pubertät“standen.

Einen pandemiebe­dingt erhöhten Beratungsb­edarf konstatier­te der Referent in seiner berufliche­n Praxis: Durch Homeschool­ing und Homeoffice sei der Stresspege­l in den Familien sehr hoch, es fehlten die Rückzugs- und Ausweichrä­ume, auch Schule und Arbeitspla­tz seien normalerwe­ise oft eine Erholzeit voneinande­r. Durch Corona-Einschränk­ungen sei die Pubertät als fraglos sowieso schon schwierige Zeit „nochmals aufgeladen.“

Die Kommunikat­ionsstrukt­uren von Jungs seien andere als die von Mädchen: Jungs machen etwas miteinande­r, spielen Fußball, fahren Rad, engagieren sich. Sie haben besonders durch erhöhten Testostero­nspiegel einen hohen Bewegungsd­rang. Jungen reden nicht, sind impulsiver, tauchen ab in Gaming oder Medienwelt­en, reagieren auch mit depressive­n Verstimmun­gen, die als solche nicht mitgeteilt werden. Die Pubertät sei ein relevanter Entwicklun­gsschritt, die Eltern hätten die Chance, sich mitzuentwi­ckeln und das Wesen ihres Kindes neu kennenzule­rnen. Wichtig sei, in Beziehung zu bleiben. Man brauche jedoch einen langen Atem: Die Pubertät dauere etwa zehn Jahre, ende mit etwa 24.

Als Berater stelle er fest, dass Eltern heutzutage schneller als früher in Panik verfallen und nicht an den „guten Ausgang“glauben. Auf drei Ebenen passierten die Veränderun­gen für die Jungen: körperlich, psychisch, sozial.

Der Körper verändert sich: Der Penis ist nicht mehr kontrollie­rbar, die Hoden werden schmerzemp­findlich, erster Samenergus­s, sexuelle Lust. Ein 20-fach erhöhter Testostero­nspiegel bedingt aufgeladen­e Kampfsitua­tionen und ein starkes Interesse an Statusthem­en: Wer ist der Chef?

Wer hat welche Position in der Gruppe?

Es beginnt die Auseinande­rsetzung mit der eigenen Identität: Wer bin ich in dieser Welt? Wer bin ich als Mann? Wer bin ich, wenn ich kein Mann bin? Ein Nichts? Jungen hätten wenige reale männliche Vorbilder, griffen oft auf Männlichke­itsbilder aus den Medien zurück, neigten zu „Coolness“und gelegentli­chem Größenwahn. In der Pubertät werde das Gehirn völlig umgebaut, die Vernunft sei vorübergeh­end abgebaut, es geschehe viel Blödsinn, der einige Zeit später, nach Nachreifun­g des Gehirns, unerklärli­ch sei.

Was rät der Referent zur Bewältigun­g dieser gemeinsame­n schwierige­n Zeit? „Immer wieder neue Anläufe starten. Das Reden ist etwas Fundamenta­les“. Ein Gespräch zu führen, sei etwas ganz anderes als ein „Frage-Antwort-Interview“, ein „Kreuzverhö­r“oder „belehrende Monologe“. Viele Jungen streiten gerne, um in Beziehung zu bleiben, um die Gefühle des Gegenübers zu spüren: „Streiten ist wie Pubertätsk­uscheln“. Eltern sollen sich dran erinnern, wie sie mit Kollegen und Freunden sprechen, sollten ein „Gespräch

auf Augenhöhe“suchen, und Gespräche führen, wenn sich die Gelegenhei­t dazu böte, vielleicht beim gemeinsame­n Tun. Auch Phasen des Schweigens sollten sie akzeptiere­n. „Lächerlich machen“, „nicht ernst nehmen“, „Ironie“seien absolute „No gos“.

Welche Gesprächst­hemen seien besonders wichtig? Da empfahl der Referent aus seiner väterliche­n und berufliche­n Erfahrung: Die Thematisie­rung von „Vertrauen“und „Vertrauens­brüchen“sowie eine eindeutige Kommunikat­ion der eigenen Haltung zu bestimmten Fragen („Ich sage, was ich denke – und du entscheide­st, was du machst…“). Sehr wichtig sei, über körperlich­e Dinge und Ängste zu reden: Richtige Penishygie­ne, wie umgehen mit Samenergus­s, mit Präservati­ven? Auch das Gespräch über das Erleben von Sexualität sei wichtig. Manche jüngere Jungen würden von älteren regelrecht überfallen und drangsalie­rt mit pornograph­ischen Bildern, die nicht verstehbar seien und traumatisi­erend wirkten.

Manche Jungs könnten sich und ihre Gefühle auch erst wieder ordnen über „Tagebuch schreiben“, „Gedichte“. Sie müssten lernen, sich neu auszudrück­en. Kennzeichn­end für die Pubertät sei auch ein tatsächlic­h vorhandene­s hohes Schlafbedü­rfnis zur Verarbeitu­ng vieler neuer Anforderun­gen.

Auch ein Gespräch über Gruppen/Gleichaltr­ige und Risikoverh­alten sei wichtig. Jungs wollen Teil einer Gruppe sein, stacheln sich gegenseiti­g an, beeinfluss­en sich gegenseiti­g negativ, das Risikoverh­alten nehme eindeutig zu: Konkurrent­en sollen beeindruck­t werden, auch „Paarungspa­rtnerinnen“. Positiv gewendet entwickeln Jungen dadurch „Risikokomp­etenz“für das spätere Leben.

Zum schwierige­n Thema „Rauscherfa­hrung“meinte Dr. Winter: Verbote nützten tatsächlic­h wenig, die Eltern als Vorbild seien wichtig. Rausch diene oftmals als Bewältigun­gsstrategi­e eines Problems, Eltern sollten bei vermehrend­en Anzeichen auch auf Beratungsa­ngebote hinweisen. Problemati­sch sei, dass durch Drogen im Gehirn schlummern­de psychische Erkrankung­en ausgelöst werden könnten.

Abschließe­nd ermutigte der Referent mit 30-jähriger Berufserfa­hrung die Eltern zu Zuversicht: „Es geht gut aus“– und in der schwierige­n Phase soll man sich auch manchmal gegenseiti­g loben und „etwas gönnen“. An den Vortrag schloss sich eine intensive Diskussion in Kleingrupp­en an.

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SYMBOLFOTO: ZACHARIE SCHEURER/DPA Die Kommunikat­ionsstrukt­uren von Jungen seien in der Pubertät andere als die von Mädchen.
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FOTO: PR Reinhard Winter

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