Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Ganze Gebiete waren für Juden verboten
In Buchau lebten erfolgreiche jüdische Geschäftsleute in Sicherheit – Wohn- und Aufenthaltsrecht waren aber lange Zeit genau geregelt
Wieder einmal sollten es die Juden richten. Im Jahr 1385 blickten die Bürger der Freien Reichsstadt Buchau in eine wenig erfreuliche wirtschaftliche Zukunft. Aber es gab einen Ausweg, den auch andere Städte in Deutschland nutzten. Die Buchauer baten König Wenzel I. um das Privileg, Juden anzusiedeln. Der König gewährte dieses Vorrecht, die Stadt durfte sogenannte Schutzjuden aufnehmen. Buchau hatte davon gleich zwei Vorteile. Die Juden belebten das Wirtschaftsleben der Stadt und diese konnte ihre neuen Bewohner mit immer neuen Steuern und Abgaben ausbeuten, ganz nach dem Motto: „Geht es den Juden gut, geht es der Stadt gut“. Buchau wurde damit einer der wenigen Orte in Oberschwaben mit einer großen jüdischen Gemeinde. Ein zweiter Ort war Laupheim, wo sich allerdings erst rund 400 Jahre später die ersten Juden niederließen.
Natürlich wollten die Buchauer keine armen Juden aufnehmen, deshalb musste jeder, bevor er in die Stadt ziehen durfte, ein einmaliges Aufnahmegeld von 100 Gulden bezahlen. Jedes Jahr waren weitere 16 Gulden Schutzgeld fällig. Wohnund das Aufenthaltsrecht waren genau geregelt. Bis 1822 durften Juden nur in einem Gebiet um die Judengasse wohnen. Selbst Eheschließung und religiöse Rechte waren streng reglementiert. Aber all das war erträglich, denn in Buchau lebten die Juden vergleichsweise in Sicherheit, ganz im Unterschied zu ihren Glaubensbrüdern in anderen Städten und Gemeinden in der Umgebung.
Es war eine brüchige Sicherheit, wie ein Fall in Diessenhofen am Hochrhein zeigt, gleich hinter der Schweizer Grenze. Dort wurde im Jahr 1401 ein Jude beschuldigt, einen kleinen Jungen ermordet zu haben, um sein Blut zu trinken. Leugnen half ihm nicht, er wurde verurteilt, verbrannt und mit ihm gleich weitere 57 Juden in Schaffhausen und Winterthur. Doch bald bereuten die Diessenhofener den Justizmord. 1426 gestatteten sie wieder die Niederlassung von Juden in der Stadt aus demselben Grund wie die Buchauer. „Do empfiengen wir einen juden zu burger, wan wir laider in grossen schulden standen und wol bedörften, das wir juden und ander lüt innemen.“
Viele Städte in Südwestdeutschland weisen nur eine kurze Geschichte der Juden auf, zum Beispiel Ravensburg. Dort entstand um 1330, also gleichzeitig wie in Buchau, eine jüdische Gemeinde. Auch ihre Mitglieder mussten abgesondert wohnen in der heutigen „Grüner-TurmStraße“. Erhalten sind aus dieser Zeit zwei ganz seltene Zeugnisse jüdischen Lebens in der Stadt – zwei Dachziegel, verziert mit einem Männerkopf mit spitzem Hut. Dieser war – wie auch der gelbe Stern – ein Zeichen, mit denen Juden außerhalb ihres Wohngebiets ihren abweichenden Glauben und Status dokumentieren mussten. So bedeutend ist dieser Fund, dass einer der Ziegel im Bayerischen Nationalmuseum in München ausgestellt wird, der andere ist im städtischen Museum Humpis-Quartier in Ravensburg zu besichtigen.
Genau ein Jahrhundert nachdem die ersten Juden nach Ravensburg kamen, wurde die Gemeinde dort ausgelöscht. Es begann auch hier mit einem Mord an einem kleinen Jungen. Ein Verdächtiger leugnete alles, schob die Schuld den Juden als Ritualmord zu, die das abstritten. Natürlich glaubten die Ravensburger dem Christen, vertrieben oder ermordeten die Juden. Seitdem wurden sie nicht mehr von der Stadt aufgenommen, erst gegen 1850 bildete sich wieder eine Gemeinde.
Oft waren ganze Herrschaften für Juden verboten. Der für die Landesgeschichte Württembergs so wichtige Graf Eberhard im Bart war ein wilder Antisemit. Erst als er die Juden aus Tübingen vertrieben hatte, schenkte er der Stadt die Universität. Sein Nachfolger Herzog Ulrich erlaubte zwar Juden die Durchreise durch seine Herrschaft. Aber auf Reichstagen forderte er „die hochschädlichen, nagenden, heimlichen und immerfressenden würmer, verräter des vaterlandes, öffentliche feinde des sohn gottes und seiner gemeinde“aus dem ganzen Reich zu vertreiben. Herzog Friedrich wollte um 1598 einige jüdische Kaufleute in Stuttgart ansiedeln, doch sein Hofprediger Lukas Osiander warnte vor dem „verfluchten Volk und Ungeziefer“und berief sich dabei auf Martin Luther und dessen antijüdische Schrift von 1543.
Als 1806 Oberschwaben zu Württemberg kam, hatte sich der Wind gedreht. Das Königshaus in Stuttgart war den Juden wohlgesonnen. 1828 wurden sie durch das „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“weitgehend allen Untertanen gleichgestellt. Aber das Wahlrecht wurde ihnen weiterhin verwehrt. Für Buchaus Juden begann eine gute und erfolgreiche Zeit. Sie versteuerten im Jahr 1823 rund 14 900 Gulden Umsatz. Die doppelt so starke christliche Bürgerschaft versteuerte mit 15 200 Gulden nur unwesentlich mehr. Zwischen 1835 und 1865 gründeten Juden dort mehrere Textilfabriken, teilweise mit Zweigwerken in Weingarten und Schussenried. In Hermann Moos’ Hemdenfabrik arbeiteten kurz vor dem Ersten Weltkrieg 200 Frauen und Männer, weitere 400 in Heimarbeit. 1860 kam eine Zigarrenfabrik dazu. Rudolf Moos hatte die Idee, Schuhe unter einem Markennamen zu verkaufen und schuf die Marke „Salamander“. Zu der Zeit war er allerdings schon in eine größere Stadt, nach Berlin übergesiedelt, wie andere erfolgreiche Juden, denen Buchau und die wirtschaftlichen Chancen am Ort zu eng geworden waren. Zu ihnen gehörte auch Hermann Einstein, der 1869 nach Ulm zog, Vater des berühmten Physikers Albert Einstein.
Reinhold Adler, der eine Geschichte der Buchauer Juden geschrieben hat, stellt fest: „Die christliche Bevölkerung Buchaus hatte weitgehend die Chance der Industrialisierung und der Ausweitung des Handels nicht erkannt. In der traditionellen Denkweise des ortsgebundenen zünftischen Geschäftsverkehrs verharrend, kam sie bald in eine wirtschaftlich soziale Abhängigkeit von der sich ansiedelnden Industrie oder begann ein Reparaturund Verarbeitungsgewerbe auszuüben.“Die Folge waren zunehmende Spannungen zwischen Christen und Juden, die die neue Niederlassungsfreiheit ausübten und Häuser außerhalb der Judengasse erwarben oder neu erbauten. Es kam zu Mord- und Branddrohungen und zu Ausschreitungen. Auch wenn sich im „Dritten Reich“Buchauer schützend vor ihre jüdischen Mitbürger stellten: Die Stadt war keine Insel im antisemitischen Meer.
1933, als in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen, lebten in Buchau noch 204 Juden. 77 wanderten aus, das heißt, sie wurden vom NS-Staat ausgeplündert und mussten sich bitterarm irgendwo in der Welt eine neue Existenz aufbauen. 21 starben eines natürlichen Todes, zwei setzten ihrem Leben selbst ein Ende, aber rund 100 wurden ermordet. Vier Juden kehrten nach 1945 zurück, darunter Siegbert Einstein. Er wurde stellvertretender Bürgermeister. Ein Konkurrent, der sich ebenfalls um dieses Amt beworben hatte, sagte im Wahlkampf: „Ein Jude hat auf dem Rathaus nichts zu suchen.“Ein Antisemit, so meinte er wohl, schon.