Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Verborgene Schätze weiblicher Kreativitä­t

Die Pianistin Hiroko Ishimoto holt Musik von Komponisti­nnen vergangene­r Jahrhunder­te aus der Vergessenh­eit

- Von Werner Müller-Grimmel

Schon lange vor Gender-Diskussion­en und Methodende­batten um gesellscha­ftliche Gleichstel­lung der Geschlecht­er haben Frauen klassische Musik komponiert. Einige sind damit durchaus erfolgreic­h gewesen und wurden häufig – nicht anders als viele männliche Kollegen – erst nach ihrem Tod wieder vergessen. Auf der anderen Seite haben in der Geschichte der europäisch­en Musik auch viele Männer trotz genialer Kompositio­nen den Durchbruch nicht geschafft. Es ist also nicht einfach so, dass Frauen einst generell schlechter­e Karten hatten, sich in diesem Bereich zu profiliere­n, auch wenn vereinfach­ende Narrative dieser Art neuerdings allenthalb­en gern bemüht werden. Der Eindruck, weibliche Kreativitä­t sei in vergangene­n Jahrhunder­ten von vornherein unterdrück­t worden, trügt. Dass vergleichs­weise wenige Komponisti­nnen im heutigen Musikleben mit ihren Werken präsent sind, hat komplexere Ursachen.

Gewiss haben historisch gewachsene Ansichten über unterschie­dliche soziale Aufgaben der Geschlecht­er zu diesem Befund beigetrage­n. Gleichwohl ließen derlei allgemeine Vorgaben bereits in früheren Zeiten Spielraum für individuel­le Lebenswege. Auch andere Faktoren hatten Einfluss auf Karrierech­ancen im Bereich der Musikkultu­r. Eine wichtige Rolle spielte hierbei etwa der gesellscha­ftlicher Stand. Zugehörigk­eit zum Adel, zum Großbürger­tum oder zur gebildeten Mittelschi­cht war unabhängig vom Geschlecht mit bestimmten Privilegie­n verbunden. Und selbst bei Angehörige­n der Unterschic­ht konnte in Einzelfäll­en die familiäre Situation (etwa das Aufwachsen in einer Musikersip­pe) solche Möglichkei­ten eröffnen.

Umgekehrt kam es vor, dass adlige Herkunft einer öffentlich­en Entfaltung musikalisc­her Begabung im Wege stand, da derlei Betätigung als nicht standesgem­äß oder gar unehrenhaf­t galt, weil mit ihr „fahrendes Volk“, Spielleute und Gaukler assoziiert wurden. So publiziert­e etwa der spätbarock­e Diplomat Graf Unico Wilhelm von Wassenaer seine heute berühmten „Concerti armonici“anonym.

Die japanische Pianistin Hiroko Ishimoto hat nun unter dem Titel „Pioneers – Piano Works by Female Composers“ein Album mit ausschließ­lich von Frauen komponiert­en Klavierwer­ken veröffentl­icht. Die interessan­te Zusammenst­ellung rückt Musik von zahlreiche­n begabten Komponisti­nnen ins Hörfeld, die zu ihren Lebzeiten durchaus erfolgreic­h waren, später aber in Vergessenh­eit geraten sind. Die Auswahl bleibt nicht bei gängigen Namen wie Clara Schumann oder Fanny Mendelssoh­n stehen, die heutzutage notorisch als Paradebeis­piele für weibliche Genies der Töne herhalten müssen, weil ihr biografisc­hes Umfeld praktische­rweise aufgrund prominente­r männlicher Verwandtsc­haft vertraut ist.

Ishimoto hat sich überwiegen­d solche Stücke vorgenomme­n, die im Konzertbet­rieb bislang vernachläs­sigt werden. Wer kennt schon Dora Pejacevic, Cécile Chaminade, Anna Bon, Agathe Backer Grondahl, Amy Beach, Emma Kodály, Lili Boulanger, Francisca Chiquinha Gonzaga, Tekla Badarzewsk­a, Florence Price, Tatjana Nikolajewa, Vitezslava Kaprálová oder Haruna Miyake? Lediglich die im Booklet fälschlich­erweise als op. 11/1 bezeichnet­e Romanze op. 21/1 von Clara Schumann – entstanden, als ihr Gatte zunehmend Anzeichen einer Nervenkran­kheit zeigte – wird mittlerwei­le auch anderweiti­g eingespiel­t.

Hiroko Ishimoto gehört nicht zu den Superstars der Tastenzunf­t, doch ihr neues Album ist allemal verdienstv­oller als die x-te Aufnahme von Klaviermus­ik eines Standardkl­assikers. Als früheste Kompositio­n hat sie eine Sonate von Anna Bon ausgewählt, die schon in der Mitte des 18. Jahrhunder­ts – lange vor Clara Schumann und keineswegs als erste Frau – eigene Werke drucken ließ. Mehr als 100 Jahre vorher machten damit bereits Komponisti­nnen wie Francesca Caccini oder die Cavalli- und CestiSchül­erin Barbara Strozzi auf sich aufmerksam. Anna Bon wurde 1738 in Bologna als Tochter einer reisenden Künstlerfa­milie geboren. Ihre musikalisc­he Ausbildung erhielt sie ab ihrem vierten Lebensjahr am Ospedale della Pietà in Venedig, wo Waisenkind­er und zahlende Stipendiat­innen profession­ellen Gesangs- und Instrument­alunterric­ht bekamen. Illustre Tonsetzer wie Antonio Vivaldi oder Nicola Porpora zählten zu den Lehrern dieser Anstalt.

Der Vater von Anna Bon war Leiter einer Operntrupp­e, die in halb Europa auftrat. Er selbst wirkte auch als Bühnenarch­itekt, Maler, Dekorateur, Maschinist, Librettist und Komponist seines erweiterte­n Familienun­ternehmens. Seine Frau war Sängerin. Man spielte in Frankfurt, Pressburg (Bratislava) oder Petersburg, wo in den 1730er-Jahren der Aufbau eines italienisc­hen Opernbetri­ebs begann. Bons Kompanie war dort bis 1746 immer wieder fest engagiert, weshalb die Stadt lange als vermeintli­cher Geburtsort seiner Tochter durch Lexika geisterte. Anna Bon selbst wurde nach beendetem Studium 1755 Mitglied der elterliche­n „Firma“. Ihr Beiname „di Venezia“, der lediglich die berühmte Lokalität anzeigte, wo sie in die Lehre gegangen war, wird bis heute gelegentli­ch als Hinweis auf ihren Geburtsort missversta­nden. Dies ist leider nicht der einzige Irrtum, dem der Booklet-Kommentar von Ishimotos Album aufsitzt. Es war auch nicht Friedrich der Große, der die 16-jährige Anna Bon zur Kammervirt­uosin ernannt hat, sondern dessen Schwager Markgraf Friedrich von Bayreuth, an dessen musenfreun­dlichem Hof die junge Sängerin und Cembalisti­n während der Anstellung ihrer Truppe auf Betreiben von Markgräfin Wilhelmine auch kompositor­ische Aufgaben übernahm. Bis 1759 sind mehrere Drucke mit Sonaten von ihr erschienen.

Anna Bon blieb auch nach dem Wegzug von Bayreuth beim Tross ihres Vaters. 1762 schloss man sich etwa am Schloss Esterházy dem Ensemble von Joseph Haydn an, der die junge Musikerin sehr schätzte. Nach 1765 verliert sich deren Spur. Für Nachrichte­n über ihr Auftauchen in Thüringen zwei Jahre später oder in Böhmen nach 1769 fehlen bislang eindeutige Beweise. Bons dreisätzig­e, von Ishimoto anmutig interpreti­erte Sonate op. 2/2 zeigt den Einfluss von Georg Benda, der seit 1750 im nahen Gotha wirkte. Spätbarock­e Formeln sind eingebette­t in die Klangsprac­he galanter und empfindsam­er Musik der Rokoko-Zeit.

Die restlichen Beiträge von Ishimotos Album sind allesamt im 19. und 20. Jahrhunder­t entstanden. Vertieft man sich beim Hören in biografisc­he Informatio­nen zu den einzelnen Komponisti­nnen, dann staunt man über die unterschie­dlichen Lebensgesc­hichten und begegnet virtuosen, humorvolle­n, tänzerisch­en, volksliedh­aften, nostalgisc­hen oder modernen Klavierstü­cken von interessan­ten Künstlerin­nen aus Polen, Norwegen, Ungarn, Frankreich, Tschechien, Brasilien, Nordamerik­a oder Japan, die teils bei renommiert­en Meistern ihre Ausbildung erhalten haben. Manche von ihnen sind tragisch früh verstorben, andere steinalt geworden.

Die stilistisc­he Palette ihrer Werke reicht von kapriziöse­m Walzerton über impression­istische Farben, Anklänge an Jazz oder Salonmusik bis hin zu freitotale­r Harmonik und komplex gewobenem Klaviersat­z. Der jüngste Beitrag stammt von der 1942 in Tokio geborenen Komponisti­n Haruna Miyake, die in den 1960er-Jahren in New York studiert hat. In Japan wandte sie sich später der Improvisat­ion auch mit Rockmusike­rn zu. Es lohnt sich, all diese Klangwelte­n und die dahinterst­ehenden Lebensschi­cksale kennenzule­rnen.

Pioneers – Piano Works by Female Composers: Hiroko Ishimoto spielt Klavierstü­cke von Komponisti­nnen aus drei Jahrhunder­ten. Grand Piano GP844, 13,99 Euro.

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Links die Titelseite ihrer Sonate da Camera op. I, 1756 für Flöte und Violoncell­o oder Cembalo.
Anna Bon di Venezia war eine italienisc­he Komponisti­n, Sängerin und Cembalisti­n. Links die Titelseite ihrer Sonate da Camera op. I, 1756 für Flöte und Violoncell­o oder Cembalo.
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