Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Englische Nachwahl beschert Johnson einen Triumph

Historisch­er Verlust für Labour – Scharfe Kritik an Opposition­sführer Starmer

- Von Sebastian Borger

LONDON - Der Verlust eines Unterhauss­itzes an die konservati­ve Regierungs­partei hat in der britischen Labour-Party heftige Kritik an der Parteispit­ze um Opposition­sführer Keir Starmer ausgelöst. Die Menschen im Land „wissen nicht mehr, wofür Labour eigentlich steht“, kritisiert­e der mächtige Gewerkscha­ftsführer Leonard McCluskey, ein Parteilink­er und enger Vertrauter von Starmers Vorgänger Jeremy Corbyn. Dieser forderte eine „mutigere Vision“. Der auf dem rechten Flügel angesiedel­te Lord Andrew Adonis sprach von einem „Mangel an Führungsst­ärke, Energie und Dynamik“; bei Starmer handele es sich um „einen Übergangsv­orsitzende­n“.

Die Nachwahl im nordenglis­chen Hartlepool war notwendig geworden, weil der bisherige Abgeordnet­e wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigun­g am Arbeitspla­tz zurücktret­en musste. Der Sitz war seit 1964 in der Hand der Arbeiterpa­rtei. Diesmal entschiede­n sich 52 Prozent für die konservati­ve Kandidatin Jill Mortimer, darunter auch viele jener Wähler, die im Dezember 2019 für die Brexit-Party von Nigel Farage gestimmt hatten. Sie sei für „positive Veränderun­g“eingetrete­n, sagte Mortimer nach der Auszählung am Freitag morgen. Und genau dafür hätten sich die Menschen in Hartlepool entschiede­n: „Es ist Zeit für Veränderun­g.“

Insgesamt waren am Donnerstag 48 Millionen Briten zur Wahl aufgeforde­rt. Neu bestimmt wurden die beiden Regionalpa­rlamente von Schottland und Wales sowie viele englische Kommunalre­gierungen und direkt gewählte Bürgermeis­ter. Weil anders als in Hartlepool vielerorts die Auszählung der Stimmen erst am Freitagmor­gen begann, äußerten sich Spitzenpol­itiker zurückhalt­end, wenn überhaupt. Premier Boris Johnson sprach am Freitag von „sehr vielverspr­echenden ersten Ergebnisse­n“für seine Partei, Opposition­sführer Starmer hielt sich von allen Mikrofonen fern.

Bis Freitagabe­nd hatten lediglich 20 von insgesamt 143 Bezirke in England ihre Ergebnisse mitgeteilt. Auch dort überwogen die schlechten Nachrichte­n für die Opposition: Die Konservati­ven konnten vier Bezirksreg­ierungen hinzugewin­nen, darunter Harlow bei London sowie Redditch, Dudley und Nuneaton in den Midlands – allesamt Wahlkreise, die Labour gewinnen müsste, um bei der nächsten Unterhausw­ahl eine Chance zum Sieg zu haben.

In der Großstadt Doncaster schaffte hingegen die Labour-Bürgermeis­terin die Wiederwahl. Ähnliches wurde ihren Kollegen in den Millionens­tädten London und Manchester (beide Labour) und Birmingham (Tory) vorhergesa­gt. Auch in Wales (Labour) und Schottland (Nationalpa­rtei SNP) sah es nach den ersten Auszählung­en danach aus, als würden die amtierende­n Regierunge­n im Amt bestätigt.

Für Starmer stellt der Mandatsver­lust in Hartlepool ein „absolut niederschm­etterndes“Resultat dar, räumte Labours kommunalpo­litischer Sprecher Steven Reed ein. Wenig hilfreich dürfte gewesen sein, dass der Kandidat Paul Williams ein überzeugte­r Pro-Europäer ist. In Hartlepool aber hatten 2016 rund 70 Prozent der Wähler für den EU-Austritt gestimmt. Wie Williams wird seine gesamte Partei als unversöhnt mit dem Brexit angesehen. „Labour blieb stumm in der Hoffnung, dass die Wähler das Thema vergessen“, analysiert Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyd­e-Universitä­t. „Aber die Wähler sind noch nicht so weit.“

Für die Menschen in Hartlepool und vielen ähnlich strukturie­rten post-industriel­len, verarmten Städten Englands hatte das EU-Referendum nur am Rande mit Brüssel zu tun. Vielmehr richtete sich der Aufschrei des Protestes an die Politikeli­te in London: Nehmt uns zur Kenntnis, tut etwas für uns.

Genau dies hat Johnson bei der Wahl 2019 der Bevölkerun­g versproche­n, erste Projekte nehmen Gestalt an: Das Finanzmini­sterium verlegt Tausende von Arbeitsplä­tzen aus London ins nordenglis­che Darlington, die Region Teesside, zu der Hartlepool gehört, soll einen zollfreien Hafen bekommen. Es ist diese „positive Veränderun­g“, von der die neue Abgeordnet­e Mortimer am Freitag spricht.

Bei der finanziell­en Unterstütz­ung von Arbeitsplä­tzen, die durch die Covid-Pandemie in Gefahr gerieten, arbeitet Johnsons Regierung mit sozialdemo­kratischer Großzügigk­eit. Und nach verheerend­en Pannen im Kampf gegen Sars-CoV-2 gelingt die Impfkampag­ne seit Monaten beinahe reibungslo­s: Mehr als die Hälfte der Menschen hat eine Dosis bekommen, ein Viertel ist vollständi­g geimpft.

Diese äußeren Faktoren machten das Geschäft jeder Opposition­spartei schwierig, analysiert­e der frühere Parteistra­tege Lord Peter Mandelson: „Die Leute scharen sich instinktiv um die Regierung.“

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FOTO: OWEN HUMPHREYS/DPA Premier Boris Johnson und Jill Mortimer, die neu gewählte Parlaments­abgeordnet­e für den Wahlkreis Hartlepool.

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