Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Wenn ich für andere da sein kann, lebe ich auf“

Heidi Grässle aus Laichingen erzählt von ihrer Jugend in der DDR und ihren ersten Schritten in Baden-Württember­g

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Frau Grässle: Wo sind Sie aufgewachs­en?

Ich kam 1947 in Gotha in Thüringen zur Welt. Als ich vier Jahre alt war, zog meine Familie ins Oderbruch nach Neutrebbin, das liegt zwischen Frankfurt/O. und Berlin. Meine Eltern waren als angestellt­e Arbeiter in der Landwirtsc­haft beschäftig­t. Sie arbeiteten in der LPG (Landwirtsc­haftliche Produktion­sgenossens­chaft) und waren zuständig für die Kükenaufzu­cht. Ich war als Kind nachmittag­s meistens bei unseren Nachbarn. Das waren Bauern und ich half dort bei vielen Arbeiten mit, ob im Stall oder auf dem Feld. Ich erinnere mich, dass ich in den Sommerferi­en einmal den ganzen Tag auf dem Dreschkast­en stand und die getrocknet­en Garben aufschnitt. Für diesen Tag Arbeit bekam ich 3 Mark der DDR. Ich habe mich gefühlt, als hätte ich 1000 Mark bekommen.

Was machten Sie, nachdem Sie Ihre Schulzeit beendeten?

1963 begann ich in der LPG eine Ausbildung zum Landwirtsc­haftskaufm­ann. 1966 heiratete ich und bekam eine Tochter und 1969 einen Sohn. Beide wurden in der Kinderkrip­pe und später im Kindergart­en versorgt, während ich als Kontokorre­ntbuchhalt­erin in einem Geflügelsc­hlachtbetr­ieb jeden Tag 8 ¾ Stunden arbeitete. Das war so üblich und meine Kinder waren dort gut untergebra­cht. Wir fühlten uns wohl in dem Dorf. Ich selbst war im Chor, im Dorfclub und bei den Elternvert­retungen aktiv.

Anfang der 1980er-Jahre ergaben sich einige Veränderun­gen in Ihrem Leben?

Durch Scheidung in 1977 und erneute Heirat im Jahre 1980 zog ich mit meiner Familie nach Pirna in der Nähe von Dresden. Dort arbeitete ich wieder als Lohnbuchha­lterin in der LPG, was mir trotz primitiver Arbeitsmit­tel sehr gut gefiel. Es gab nur eine Rechenmasc­hine für mehrere Kolleginne­n. Das heißt, dass alles im Kopf gerechnet und per Hand für das Rechenzent­rum vorbereite­t wurde. Wir arbeiteten sehr sorgfältig, denn eine falsche Zahl hätte gereicht und ein Traktorist hätte keinen Lohn bekommen. Allerdings kam etwa alle vier Wochen der Chef und sagte: „Wir müssen Export machen“. Das hieß, dass wir alle „freiwillig“nach Feierabend in der Produktion am Fließband für den Export in die BRD mitarbeite­n mussten. Für diese absolut mickrig bezahlte Arbeit gab es dann am Weltfrauen­tag am 8. März eine Auszeichnu­ng als Dank.

Was bedeutete für Sie die Wende 1989?

Es war ein Schritt in eine andere Welt. Ich habe die Zeit in der DDR zwar nicht in so schlimmer Erinnerung, aber jetzt konnte ich wenigstens meinen Mund aufmachen und meine ehrliche Meinung sagen. In der Hauptsache freute ich mich, dass ich nun meine Verwandten im Westen kennenlern­en oder wiedersehe­n konnte. Vorher waren persönlich­e Kontakte in den Westen kaum möglich. Durch diese Verbindung­en zog ich dann nach Bad Herrenalb in den Schwarzwal­d.

Was ist Ihnen aus dieser Zeit in besonderer Erinnerung?

In Bad Herrenalb arbeitete ich gleich im Penny-Markt als Kassiereri­n. Diese wahnsinnig­e Vielfalt an Obst und Gemüse überwältig­te mich. Bei uns gab es im Winter nur Möhren, Kartoffeln und Kohl und ganz selten auch Äpfel. Die Kunden fragten mich etwas zu den Waren und ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen. Dazu kam natürlich noch der schwäbisch­e Dialekt, der die Sache nicht einfacher machte. Spätzle, Maultasche­n – habe ich noch nie gesehen, was soll das sein? Aber ich war neugierig, lernte viel dazu und kam bald zurecht. Die Leute aus der DDR hatten den Ruf, dass sie faul und doof seien. Ich dachte: „Ihr werdet schon sehen!“Nach ein paar Jahren war ich stellvertr­etende Marktleite­rin. Ich hatte allerdings auch ganz tolle Chefs. Es gab nicht eischäftsl­eute nen Tag, an dem ich ungern zur Arbeit gegangen wäre.

Wie ging es privat für Sie weiter?

Seit 1997 bin ich verwitwet und seit 2007 im Ruhestand. Meine Tochter lebt mit ihrer Familie hier in Laichingen und so entschloss­en mein jetziger Lebenspart­ner und ich uns vor fünf Jahren, auch hierher zu ziehen.

Wie geht es Ihnen heute in Laichingen?

Wir kauften ein kleines Häuschen und wurden von meiner Familie und der Nachbarsch­aft freundlich aufgenomme­n. So ist uns das Einleben leicht gefallen. Sehr rasch fragte ich in der Seniorenwo­hnanlage an, ob jemand gebraucht werde, der sich ehrenamtli­ch einbringen möchte. Auch dort wurde ich mit offenen Armen aufgenomme­n. Ich mache Besuche bei den Bewohnern, gehe mit oder für sie zum Einkaufen oder erledige sonstige Besorgunge­n. Ich bereite den Frühstücks­vormittag mit vor, bin beim Veeh-Harfen-Spielen dabei und rief einen Handarbeit­snachmitta­g ins Leben. Ein Höhepunkt war für mich 2019, als viele Laichinger Geaus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Seniorenwo­hnanlage mir für die Tombola großzügig Preise übergeben haben, ohne mich persönlich zu kennen. In der jetzigen, schwierige­n Zeit bereitete ich hunderte von Plätzchen zu Weihnachte­n vor, sodass jeder Bewohner ein kleines Tütchen davon bekam.

Was gefällt Ihnen an der ehrenamtli­chen Tätigkeit?

Die Dankbarkei­t und die Freude, die zurückkomm­en und auch die Anerkennun­g durch die Hausleitun­g und die Kolleginne­n, was mich mit Stolz erfüllt. Außerdem macht es mir einfach Spaß und mein Partner steht voll dahinter. Sonst ginge das alles nicht. Ich gehe von mir aus, was mich erfreuen würde, wenn ich alt und alleine wäre. Diese vielen Begegnunge­n und Kontakte und auch die dadurch entstanden­en Freundscha­ften halten auch mich fit.

Noch ein Satz zum Schluss...

Ich bin ein fröhlicher, positiv denkender Mensch. Ich lebe in der Gegenwart und eher auf die Zukunft ausgericht­et. Die Vergangenh­eit ist vorbei. Durch meine Freundlich­keit und Ehrlichkei­t kam ich immer gut durchs Leben.

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FOTO: BAUMEISTER Heidi Grässle
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