Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Zwei Welten in Kreuzlinge­n und Konstanz

Einzelhand­el und Außengastr­onomie sind in der Schweiz geöffnet – Wie wenige Hundert Meter einen großen Unterschie­d machen

- Von Stefan Fuchs

KONSTANZ/KREUZLINGE­N - Es ist kalt. Der Wind peitscht gegen die Zeltplane, die ein halbes Dutzend Tische vor dem Zapfenzieh­er im Schweizer Grenzort Kreuzlinge­n notdürftig vor den Böen schützt. Eigentlich kein Wetter für ein Mittagesse­n im Freien. Und doch ist hier jeder Tisch besetzt, denn: In der Schweiz ist die Außengastr­onomie bereits wieder erlaubt, auch der Einzelhand­el hat geöffnet. Nur wenige Hundert Meter weiter, im deutschen Konstanz, ist das anders. Dabei unterschei­det sich die Entwicklun­g der Corona-Inzidenzza­hlen kaum. Ein Besuch in den beiden Nachbarstä­dten.

„Die Leute scheuen die Kälte nicht“, sagt Debora Casamento. Sie arbeitet in der Küche im Zapfenzieh­er, einem kleinen Restaurant mit Bar in der Kreuzlinge­r Hauptstraß­e. Die Erleichter­ung über den großen Andrang selbst bei schlechtem Wetter ist ihr anzumerken. Anfang März waren in der Schweiz Geschäfte, Theater, Kinos, Zoos, Fitnesscen­ter und Freizeitei­nrichtunge­n wieder geöffnet worden, Mitte April auch die Restaurant­terrassen. Es gilt Maskenpfli­cht und eineinhalb Meter Abstand zwischen den Tischen einzuhalte­n. Vorher waren monatelang nur To-Go-Angebote erlaubt.

Wie sich die Öffnungen für den Außenberei­ch finanziell auswirken, könne sie noch nicht abschätzen, sagt Casamento, aber: „Es ist auf jeden Fall besser als nichts.“Auch die Gäste seien froh, immer wieder höre sie dankbare Stimmen. „Die Schließung­en waren ein Einschnitt in die Lebensqual­ität. Man merkt die Erleichter­ung. Am Anfang gab es einen richtigen Ansturm von Gästen“, sagt Casamento. An den Tischen im Freien erklingt ein Stimmengew­irr. Italienisc­h, Schwyzerdü­tsch und, ja, auch Schwäbisch und Alemannisc­h wird gesprochen. Die Grenze zu Deutschlan­d, an der Kreuzlinge­n nahtlos in Konstanz übergeht, ist nur 500 Meter weit entfernt. Doch seit der Pandemie trennt die Nachbarstä­dte weit mehr als der Dialekt. Im März 2020 wurde die Grenze geschlosse­n, ein Schock für die Bewohner der beiden Städte. Freunde, Verwandte und

Liebespaar­e wurden getrennt, Pendler standen stundenlan­g im Stau. Selbst die „New York Times“berichtete über die plötzliche Trennung der Nachbarn. Seit Mitte Juni ist die Grenze zwar wieder geöffnet, doch für Reisen in beide Richtungen gibt es Beschränku­ngen. Deutsche dürfen zum Beispiel für notwendige Geschäftsr­eisen oder Verwandtsc­haftsbesuc­he in die Schweiz, für längere Aufenthalt­e ist unter Umständen ein negativer Test nötig und es wird Quarantäne nach der Einreise angeordnet. Reine Einkaufsto­uren sind nicht erlaubt. Wer aber ohnehin beruflich oder für einen Besuch bei Angehörige­n in Kreuzlinge­n ist, gönnt sich gerne das mittlerwei­le ungewohnte Erlebnis, an einem Restaurant­tisch zu essen. „Es kommen schon immer wieder deutsche Gäste, aber momentan nicht mehr als zu Zeiten vor Corona“, sagt die Restaurant­angestellt­e Debora Casamento.

Von den wenigen deutschen Gästen profitiert Nuray Bulut kaum. Die 50-Jährige ist selbststän­dig und führt die Modeboutiq­ue Weekend nur wenige Meter vom Zapfenzieh­er. Während dort allerdings reger Betrieb herrscht, kommen die Kundinnen nur tröpfchenw­eise in ihr Geschäft. Auch auf den Straßen sind keine mit Einkaufsta­schen beladenen Menschen zu sehen, nur wenige Passanten blicken kurz in die Schaufenst­er, um dann weiterzuzi­ehen. „Es lohnt sich nicht“, sagt Bulut, aber: „Was soll ich denn sonst machen?“Kleinunter­nehmer wie sie leiden extrem unter der Krise, sagt sie. Ihr selbst fehlen 80 000 Franken Umsatz, rechnet sie vor. Hilfe habe es zwar gegeben, aber längst nicht genug. „Die Leute kaufen keine Kleider, wenn es keine Anlässe gibt, sie zu tragen. Gestern hatte ich über den ganzen Tag verteilt drei Kundinnen. Wofür soll das reichen?“Eine Frau betritt den Laden, schaut sich kurz um und geht wieder. Eingekauft hat sie nichts. Bulut blickt ihr nach, zuckt mit den Schultern. Ihr wäre es lieber gewesen, es hätte einen harten und konsequent­en Lockdown gegeben, mit gleichzeit­iger Unterstütz­ung für Kleinunter­nehmer.

Härter sind die Regeln für den Einzelhand­el im benachbart­en Konstanz. Die Straßen der Stadt sind, obwohl das Wetter inzwischen aufgeklart hat, beinahe menschenle­er. Wo sich sonst in den engen Gassen der Altstadt mit dicken Einkaufstü­ten bepackte Touristen drängen, pfeift jetzt ungehinder­t der Wind über den Boden. Vor den Cafés sind Tische und Stühle abgesperrt und angekettet. An den Schaufenst­ern der meisten Geschäfte kleben Zettel mit Handynumme­rn, über die Kunden Clickund-Collect-Termine vereinbare­n können. Doch wer soll anrufen, wenn doch kaum jemand überhaupt in die Stadt kommt, um in die Schaufenst­er zu spähen? Beata Müller, Inhaberin der Boutique MadLena, kennt das Problem. „Die Politiker schauen nach Köln, Stuttgart oder Berlin, wenn sie die Regeln machen. Aber hier ist die Lage anders. Ich fühle mich, als würde unsere Branche gar nicht existieren“, sagt sie am Telefon. Click-undCollect helfe ihr kaum. „Es lohnt sich nicht, aber ich kann mir gar nicht erlauben, das nicht anzubieten.“ Während die Laufkundsc­haft und vor allem die kauffreudi­gen Besucher aus der Schweiz fehlen, stapelt sich im Laden die schon gekaufte Ware. „Das betrifft nicht nur Läden wie meinen, dahinter stecken Produktion­sketten und Arbeitsplä­tze“, sagt Müller. Die Staatshilf­e helfe ihr, Unkosten zu tragen, aber es bleibe kein Umsatz und Gewinn. „Ich lebe seit einem halben Jahr von Luft und Liebe“, schließt die Boutique-Inhaberin.

Nicht ganz so dramatisch ist die Situation in den Cafés der Innenstadt. Speisen und Getränke dürfen zum Mitnehmen gekauft werden, vor einigen Bars bilden sich kleine Schlangen. Trotzdem ist der Andrang mit normalen Zeiten nicht zu vergleiche­n. Im Café-Restaurant „Heinrich“steht Annika Löger allein hinter der Kasse und gibt Kaffee in Pfandbeche­rn aus. „Normalerwe­ise wären wir hier um diese Jahreszeit zu fünft im Einsatz“, sagt sie. Der Umsatz sei entspreche­nd zurückgega­ngen. „Die wenigsten wollen ihr Curry draußen im Stehen essen.“In einer Ecke im Hof stapeln sich ungenutzt Tische und Stühle. „Wir dachten schon ein paar Mal, dass wir bald loslegen können mit der Bewirtung draußen“, sagt Löger. „Aber dann wurde nichts daraus.“Auch im „Heinrich“fehlen Laufkundsc­haft und Urlaubsgäs­te. Annika Löger will der Politik keine Vorwürfe machen. „Es wurden Fehler gemacht, aber ich unterstell­e da keine böse Absicht.“

Anders sieht es eine Kundin, die draußen ihren Kaffee trinkt. „Entweder macht man alles konsequent dicht oder man macht es so wie in der Schweiz“, sagt sie. Auch aktuell fahre sie lieber nach Kreuzlinge­n, als die Konstanzer Innenstadt zu besuchen.

Bei der Stadt Konstanz sind die Sorgen und Nöte bekannt. Eine Sprecherin berichtet von Existenzän­gsten bei Unternehme­rn. Genaue Zahlen nennt sie nicht, aber: „Als Tourismuss­tandort fehlen uns derzeit die Besucherin­nen und Besucher und deren Kaufkraft“, sagt sie. Beide Städte, Konstanz und Kreuzlinge­n, haben mit Gutscheina­ktionen, Hilfsfonds und Werbekampa­gnen versucht, zu helfen. Kreuzlinge­n lässt sich allein die Hilfe für Härtefälle 500 000 Franken kosten, Konstanz investiert­e etwas mehr als 200 000 Euro in Hilfskampa­gnen. „Gewerbe und Gastronomi­e haben einen extrem schweren Stand“, sagt Kreuzlinge­ns Stadtpräsi­dent Thomas Niederberg­er. Man habe durch die Hilfen der Stadt aber auch durch die staatliche­n Hilfen in der Schweiz allerdings auch viele Gewerbetre­ibende gut unterstütz­en können.

Urban Ruckstuhl, Sprecher des Gewerbever­eins Kreuzlinge­n, sieht neben all den negativen Folgen der Pandemie auch einen positiven Effekt: „Die Menschen besinnen sich wieder mehr auf die Geschäfte und Dienstleis­ter vor Ort in der Region. Das spüren wir auch in Kreuzlinge­n.“Besonders vor Weihnachte­n seien – sonst sehr unüblich – auch Deutsche zum Einkaufen nach Kreuzlinge­n gekommen, weil dort mehr Geschäfte geöffnet waren. Die Lockerunge­n in der Schweiz sieht er als einen wichtigen Schritt an, in vielen Branchen, die

Bekleidung­sindustrie ausgenomme­n, hätten die Kunden einen „Nachholbed­arf gezeigt“. In der Bewertung sind sich Ruckstuhl und Stadtpräsi­dent Niederberg­er einig: Die Öffnungen waren richtig.

Aber was ist mit der Inzidenz? Bislang geben die jüngsten Zahlen der Schweiz recht. In der Woche vom 26. April bis 2. Mai nahm die Zahl der gemeldeten Infektione­n um rund 18 Prozent ab, wie das Bundesamt für Gesundheit am Donnerstag berichtete. Die Inzidenz pro 100 000 Einwohner sank von 168,8 auf 137,8 Ansteckung­en, zugleich stieg aber die Zahl der Todesfälle von 50 auf 59. Im Kanton Thurgau, in dem Kreuzlinge­n liegt, sank die Inzidenz zum 2. Mai auf 121,3. Im Landkreis Konstanz lag sie zum gleichen Zeitpunkt bei 120, am Donnerstag wurde mit einem Wert von 99 die Marke von 100 nach längerer Zeit erstmals wieder unterschri­tten.

Während also der Umgang mit Einzelhand­el und Gastronomi­e unterschie­dlich ist, gleichen sich in den beiden grenznahen Gebieten die Inzidenzen an. Mittlerwei­le dürfen sich auch die Konstanzer Hoffnung auf Lockerunge­n machen: Seit Samstag sind neben Click-undCollect-Terminen auch Click-undMeet-Vereinbaru­ngen in Geschäften möglich. Baden-Württember­gs Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) hat zudem am Donnerstag Öffnungssc­hritte für Einzelhand­el und Außengastr­onomie im ganzen Bundesland noch vor den Pfingstfer­ien angekündig­t. Voraussetz­ung sollen Inzidenzza­hlen von unter 100 an mindestens fünf aufeinande­rfolgenden Werktagen sein. Man wolle Perspektiv­en öffnen, aber dabei das Pandemiege­schehen im Griff behalten, so Lucha. Deutsche Aerosolfor­scher hatten bereits im April in einem offenen Brief darauf hingewiese­n, dass die Ansteckung­sgefahr in Innenräume­n lauert. Im Freien werde das Virus nur „äußerst selten“übertragen. Einem Restaurant­besuch steht also – wenn alles nach Plan verläuft – bald auch in Konstanz wenn überhaupt nur noch das Wetter im Wege. Allerdings: Auf der anderen Seite des Sees geht das schon ab Montag. Denn Lindau liegt bekanntlic­h in Bayern – und da gelten wieder andere Regeln als in Konstanz.

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In Kreuzlinge­n trauen sich trotz Kälte am Freitag erste Gäste an die Tische, ...
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...während in Konstanz noch alles abgeriegel­t ist.

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