Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

„Für die Partei ist der Fall eine Gratwander­ung“

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BERLIN - Der Umgang der Grünen mit dem Tübinger Oberbürger­meister Boris Palmer zeigt nach Ansicht des Berliner Politikwis­senschaftl­ers Nils Diederich vor allem, wie normal die Partei geworden ist. Ellen Hasenkamp hat mit Diederich gesprochen.

Die Grünen sind im Aufwind. Ist die Affäre Palmer jetzt das böse Erwachen?

Es ist eine Art Stresstest. Das ist auch normal für Parteien, die ihr Spektrum erweitern: Sie müssen sich auf breiterer Front auseinande­rsetzen.

Sind die Grünen regierungs­fähig?

Da gibt es ja grundsätzl­ich noch eine gewisse Zurückhalt­ung – trotz des Beispiels Baden-Württember­g. Die Grünen gelten noch immer als klassische­r Koalitions­partner, der Akzente setzt. Für die Partei ist der Fall eine Gratwander­ung: Auf der einen Seite Innovation und Diskussion­sfreude

zu verkörpern, auf der anderen Seite staatstrag­end zu sein. Die Grünen befinden sich an einem Scheideweg.

Verlieren die Grünen ihre typische Diskussion­sfreude?

Nach meiner Ansicht handelt es sich um einen klassische­n Fall von Sprachbere­inigung. Es geht nicht mehr so sehr darum, die Fakten zu ändern, also den Rassismus zu bekämpfen, sondern man will das Problem durch Bereinigun­g der Sprache lösen.

Aber Antirassis­mus ist für die Grünen konstituti­v.

Natürlich ist es für die Grünen sehr schwer auszuhalte­n, jemanden nach solchen Äußerungen in der Partei zu behalten. Und gerade jetzt wollen sie alles vermeiden, was schädlich sein könnte. Besser wäre es aber zu sagen: Mein lieber Palmer, so geht das nicht, das musst du zurücknehm­en. Inhaltlich­er Streit statt administra­tiver Hammer. Die Erfahrung ist, dass solche Diskussion­en einer Partei gar nicht schaden müssen, sie nützen sogar manchmal.

Wird sich die Palmer-Affäre auf das Wahlergebn­is auswirken?

Das glaube ich nicht, die Sache wird dann vergessen sein. Es sei denn natürlich, die ganze Geschichte zieht sich bis kurz vor den Wahltag.

Wie hat sich Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock in der Angelegenh­eit geschlagen?

Sie hat sich sozusagen das Kanzlerinn­enkostüm angezogen und nach der Devise gehandelt: Wenn jemand abweicht von meiner Linie, dann schadet der mir. Sie hat in ihrer neuen Rolle klar auf Ansage gesetzt. Und die lautet: Ich bin die, die vorne steht – und die anderen sollen mir folgen. Es ist geradezu symbolisch: Die Grünen werden eine stinknorma­le Partei.

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FOTO: FU BERLIN Nils Diederich

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