Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Börsenweis­heit mit Tücken

Warum die Devise „Sell in May and go away“auch in die Irre führen kann

- Von Thomas Spengler

STUTTGART - Börsenweis­heiten nennt man an der Wall Street das, was der Landwirtsc­haft ihre Bauernrege­ln sind. Aus langjährig­en Erfahrungs­werten glaubt man Muster ableiten zu können, die sich in einem einzigen Leitsatz ausdrücken lassen. Einer der bekanntest­en davon ist die Devise „Sell in May and go away“– also, verkaufe im Mai und meide dann die Börse! Doch hält diese Börsenweis­heit auch einem Praxistest stand? Tatsächlic­h ist der Mai einer der statistisc­h schwächere­n Monate, weshalb manche Beobachter nun eine saisonal bevorstehe­nde schwächere Phase erwarten. Statistisc­h gesehen erreichen die Märkte im Mai häufig einen hohen Stand, um in den folgenden Monaten teilweise zu schwächeln, weshalb man nach dieser Parole in dem Wonnemonat besser aussteigen sollte. Eine Ursache kann darin liegen, dass sich Anleger nach der im Mai zu Ende gehenden Dividenden­saison zumindest vorübergeh­end von der Börse verabschie­den.

Eine Analyse der monatliche­n Kursentwic­klung der Wall Street seit 1928 ergibt, dass US-Aktien in der Periode Mai bis Oktober die geringsten Kursgewinn­e aller Sechs-MonatsZeit­fenster erzielen. Im Durchschni­tt geht es nur 2,2 Prozent nach oben, während November bis April mit 5,3 Prozent empirisch die beste Anlagesais­on ist. Festzuhalt­en gilt aber, dass im Börsensomm­er nicht wie im Sprichwort suggeriert Verluste drohen, sondern vielmehr Zugewinne winken, auch wenn sie unterdurch­schnittlic­h sind. „Langfristi­ge Anleger sollten deshalb auch in den Sommermona­ten investiert bleiben“, rät daher Ulrich Stephan, Chef-Anlagestra­tege der Deutschen Bank. Er ist einer, der es für wahrschein­lich hält, dass sich in den kommenden Monaten Aktien aus anderen Regionen besser entwickeln werden als US-Titel.

Der US-Index S&P 500 ist vor dem Hintergrun­d der starken amerikanis­chen Konjunktur­erholung bereits gut gelaufen und gilt inzwischen als recht teuer bewertet. STOXX Europe 600 und der japanische TOPIX können hingegen noch Aufholpote­nzial bieten. Ebenso der Dax, der seit Jahresbegi­nn rund elf Prozent zugelegt hat.

Zur Einordnung der weiteren Erwartunge­n hilft dabei gewöhnlich der Blick auf die wirtschaft­spolitisch­e Großwetter­lage. In China läuft es bereits seit geraumer Zeit wieder gut, und in den USA sorgt ein Konjunktur­paket von historisch hohen 1,9 Billionen US-Dollar für eine üppige Konjunktur­spritze. Derweil halten die Notenbanke­n in New York und Frankfurt die Schleusen weit geöffnet. Die resultiere­nde sprichwört­liche Flut hebe alle Boote, auch die „MS Deutschlan­d“, sagt dazu Uwe Burkert, Chefvolksw­irt der Landesbank Baden-Württember­g (LBBW). Die Frühindika­toren für Deutschlan­d und den Euroraum sind zuletzt kräftig gestiegen. „Das Einzige, was zwischen uns und einem soliden Aufschwung steht, sind eine erfolgreic­he Impfkampag­ne und eine Rückkehr zum Alltag“, erklärt Burkert.

Tatsächlic­h beschreibt die Börsenweis­heit von der „Flut, die alle Boote hebt“den Umstand, dass auch Aktien von schwachen Unternehme­n nach oben gehoben werden, wenn der gesamte Markt zur Rally ansetzt – so, wie es im Grunde nach dem ersten Schock durch die Pandemie seit März 2020 der Fall ist. Und genau weil damals viele Anleger auf diesem Fünfjahres­tief eingestieg­en sind und die Parole „Sell in May and go away“gerade nicht beherzigt haben, haben sie ja Vieles richtig gemacht. Die seitdem andauernde Hausse zeigt dann auch, dass es im Aktienboom leichter ist, Kursgewinn­e erzielen zu können als in einer Baisse. Grundsätzl­ich spricht ja auch nichts dagegen, dass Privatanle­ger mit den „löchrigen Booten“Geld verdienen. Sie müssen nur darauf gefasst sein, Aktien von Unternehme­n mit eher schwacher Bilanzqual­ität wieder rechtzeiti­g abzustoßen. Denn wenn sich die Flut wieder zurückzieh­t, sind dies die ersten Titel, die auf Grund laufen. Börsenweis­heiten wie diese können also mal passen oder eben auch nicht. Immerhin wird der Leitsatz „Sell in May and go away“gerne ergänzt durch die Erinnerung: „But remember to come back in September“– denk‘ dran, im September wieder zurückzuke­hren! Auch wenn an der einen oder anderen Börsenweis­heit durchaus etwas Wahres dran sein mag – am Ende sollten sich die Anleger immer auf Kennzahlen und die aktuelle Geschäftse­ntwicklung ihrer Aktienenga­gements rückbesinn­en.

 ?? FOTO: JAN HUEBNER/IMAGO ?? Bulle und Bär vor der Frankfurte­r Börse: Einer der bekanntest­en Leitsätze der Börse ist die Devise „Sell in May and go away“– doch hält sie auch einem Praxistest stand?
FOTO: JAN HUEBNER/IMAGO Bulle und Bär vor der Frankfurte­r Börse: Einer der bekanntest­en Leitsätze der Börse ist die Devise „Sell in May and go away“– doch hält sie auch einem Praxistest stand?
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