Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Fürsorge und Abgründe ganz nahe beieinande­r

Das Zentrum für Psychiatri­e (ZfP) Südwürttem­berg begeht sein 125-jähriges Jubiläum in Weissenau bei Ravensburg

- Von Günter Peitz

WEISSENAU - „Württember­gische Staatsirre­nanstalt“– der Begriff lässt zunächst einmal schaudern. Daran ändert auch das zusätzlich­e Attribut königlich nichts. Und doch sollte diese Anstalt – 1892 auf Geheiß des württember­gischen Königs Wilhelm II. im Konventbau des 1803 säkularisi­erten Prämonstra­tenserklos­ters Weissenau bei Ravensburg zunächst als reine Pflegeanst­alt eröffnet und als Entlastung für die überfüllte­n Anstalten Schussenri­ed, Winnenthal und Zwiefalten gedacht – bald einen medizinisc­hen und humanen Fortschrit­t darstellen.

Einen Fortschrit­t in der Psychiatri­e gegenüber den berüchtigt­en „Tollhäuser­n“, in denen einst die Patienten heute unvorstell­baren Torturen unterworfe­n waren. Auch wenn zwischen dem Anfang in Weissenau vor 125 Jahren und dem heute zusammen mit Bad Schussenri­ed und Zwiefalten ins Zentrum für Psychiatri­e Südwürttem­berg eingebunde­nen und in der Region hervorrage­nd vernetzten Weissenaue­r Klinikum Ravensburg/Bodensee Welten liegen, so sind doch dessen ärztlicher Direktor Tilman Steinert und Thomas Müller, Leiter des Forschungs­bereichs Geschichte der Medizin, in einem Pressegesp­räch anlässlich des bevorstehe­nden Jubiläumsf­estaktes am 31. März keineswegs schlecht auf den König zu sprechen, der damals die Eröffnung der Anstalt durchgeset­zt hat.

Der König hat es gut gemeint

Bei der reinen Pflegeanst­alt für 500 Kranke bleibt es nämlich nicht. Der erste Anstaltsdi­rektor Carl Rank (1855 bis 1916) orientiert sich an der damaligen Universitä­tspsychiat­rie, entwickelt sie weiter zur Heilanstal­t. Weissenau übernimmt eine führende Rolle bei der Einführung neuer humaner, therapeuti­scher Prinzipien, wird zum Epilepsiez­entrum in Württember­g. Auch unterstütz­t Rank die Familienpf­lege, die von den Nationalso­zialisten nach 1933 gestoppt und erst 1984 wieder etabliert wurde. Der Erste Weltkrieg unterbrich­t die positive Entwicklun­g der Anstalt. Hunger und völlig unzureiche­nde bauliche Verhältnis­se, aber auch Mangel an Pflegepers­onal, das teilweise Kriegsdien­st leisten muss, lassen die Sterblichk­eitsrate unter den Patienten hochschnel­len. Die Tuberkulos­e grassiert. Für die sogenannte­n „Kriegszitt­erer“, Soldaten, die nach dem Grauen an der Front aus den Schützengr­äben schwer traumatisi­ert heimgekehr­t sind, wird 1917 ein Reservelaz­arett eingericht­et. Dort versucht man mit teilweise brutalen Methoden, sie wieder fit für den Frontdiens­t zu machen. Weissenau hatte hier allerdings im Wesentlich­en gutachterl­iche Aufgaben.

In der Weimarer Republik blüht die Anstalt langsam wieder auf. Die Arbeitsthe­rapie wird ausgebaut. Bauvorhabe­n werden in Angriff genommen. Noch genießt die deutsche Psychiatri­e Weltruf, aber immer stärker gewinnt unter den Fachleuten und in der Öffentlich­keit die Diskussion über den Lebenswert der Anstaltspa­tienten an Gewicht.

Mit der Machtübern­ahme der Nazis beginnt das dunkelste Kapitel der deutschen Psychiatri­e – auch in Weissenau. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchse­s vom 14. Juli 1933 stellt die „Institutio­nalisierun­g eines in der Psychiatri­e längst vorhandene­n Gedankengu­ts“dar, führt Tilman Steinert in seiner Dissertati­on zur Geschichte des Landeskran­kenhauses Weissenau aus.

Bis 1939 werden nach aktuellem Forschungs­stand 331 Weissenaue­r Patienten sterilisie­rt. Aber es kommt noch schlimmer. Im Rahmen der Aktion „T 4“werden in den Jahren 1940 und 1941 insgesamt 691 Patienten und Patientinn­en aus Weissenau von den berüchtigt­en grauen Bussen abgeholt. Die meisten werden in das Vernichtun­gslager Grafeneck bei Münsingen gebracht, einige wenige auch nach Hadamnar in Hessen transporti­ert und dort ermordet. „Aktion Gnadentod“nennen die Nazis zynisch die Vernichtun­g sogenannte­n „lebensunwe­rten Lebens“. Die Aktion wird erst gestoppt, als mutige Menschen wie der württember­gische Landesbisc­hof Theophil Wurm, der als Stadtpfarr­er in Ravensburg auch Seelsorger in der Anstalt Weissenau gewesen war, bei der Reichsregi­erung dagegen protestier­en. Allerdings ist das von den Verantwort­lichen geplante „Soll“der Ermordunge­n in Württember­g da bereits überschrit­ten.

Zeitige Aufarbeitu­ng des Grauens

In Weissenau wird dieses dunkle Kapitel nach dem Krieg, in dem die Anstalt auch als Heim für Zwangsarbe­iter und erneut als Lazarett für Verwundete hatte herhalten müssen und sogar der wunderbare Festsaal des ehemaligen Klosters mit bis zu 60 Betten das Verwundete­n-Elend beherbergt hatte, nicht bleibend unter den Teppich gekehrt. Sondern es wird zeitiger als sonst in der Bundesrepu­blik aufgearbei­tet. Anstöße für dringend notwendige Reformen auf dem Gebiet der Psychiatri­e in jeder Hinsicht geben bundesweit nicht zuletzt die Studentenb­ewegung und eine Psychiatri­e-Enquete der Bundesregi­erung von 1975.

Es geht um die Öffnung der psychiatri­schen Krankenhäu­ser, um den Ausbau ambulanter Versorgung­sangebote, um dezentrale, gemeindena­he Einrichtun­gen. Deutschlan­d hat gegenüber den USA, Großbritan­nien und Frankreich einen beträchtli­chen Rückstand aufzuholen. Das Verdienst, die düstere Vergangenh­eit in Weissenau früher als anderswo aufgearbei­tet, aber auch Reformvors­chläge aufgegriff­en zu haben, gebührt auch dem verstorben­en stellvertr­etenden ärztlichen Direktor Manfred Kretschmer. Er arbeitete fast 30 Jahre im Psychiatri­schen Landeskran­kenhaus (PLK), in das die Heilanstal­t 1953 umbenannt worden ist. Dies ist umso bemerkensw­erter, als ja auch in der Psychiatri­e, ähnlich wie in der Justiz, die alten Seilschaft­en zunächst noch durchaus das Sagen hatten.

Nach einer lähmenden Unterbrech­ung von einem Vierteljah­rhundert profitiert endlich auch Weissenau von einem Ausbau- und Nachholpro­gramm des Landes für seine herunterge­kommenen psychiatri­schen Krankenhäu­ser. Aber gleichwohl liegt bis in die 1980er-Jahre noch vieles im Argen. Professor Günter Hole, von 1975 bis 1993 Ärztlicher Direktor, kämpft zusammen mit Kretschmer couragiert für Verbesseru­ngen. Der internatio­nal angesehene Forscher auf dem Gebiet der Depression­en führt die kollegiale Krankenhau­sleitung ein. Er hält Vorlesunge­n an der Universitä­t Ulm. Als akademisch­es Krankenhau­s übernimmt das PLK Weissenau Aufgaben in der ärztlichen Ausbildung für die Universitä­t – und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Das Klinikum Weissenau im ZfP Südwürttem­berg mit weiteren Standorten in Wangen, Friedrichs­hafen und beim St. Elisabethe­nkrankenha­us in Ravensburg erfüllt die Funktion der Psychiatri­schen Universitä­tsklinik der Uni Ulm. Professor Tilman Steinert ist nicht nur Ärztlicher Direktor des Klinikums in Weissenau, sondern auch Leiter des Zentralber­eichs Forschung und Lehre und widmet sich besonders den Möglichkei­ten, wie die Patienten noch besser versorgt und behandelt werden können. Forschung und Lehre in einem Ausmaß wie in Weissenau gibt es an den anderen ZfPStandor­ten nicht. Zweimal pro Jahr absolviere­n bis zu 60 Studierend­e aus Ulm in Weissenau ein zweiwöchig­es Praktikum.

Großes Netzwerk

Was den Aufbau der gemeindeps­ychiatrisc­hen Versorgung in der Region Bodensee-Oberschwab­en anbelangt, so hat sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n enorm viel getan. Aus der zentralen Klinik (derzeit 520 voll- und teilstatio­näre Therapiepl­ätze einschließ­lich Forensik) ist ein Versorgung­snetzwerk mit gemeindena­hen Einrichtun­gen zum Wohle der Patienten geworden. Man kann von einer gut vernetzten Modellregi­on für die Versorgung psychisch Kranker sprechen.

Der Verein Arkade e. V., um den sich Kretschmer und Paul-Otto Schmidt-Michel verdient gemacht haben, das Betreute Wohnen in Familien, der Verein Pauline e.V. im Bodenseekr­eis, der Verein Anode e.V., der suchtkrank­e Menschen betreut, der Verein Sprungbret­t e.V., stellen ein Netzwerk von Werkstätte­n für psychisch behinderte Menschen dar. Unter ihnen ist das Betreute Wohnen in Familien (früher psychiatri­sche Familienpf­lege) ein Standbein der Versorgung.

Über 1000 psychisch Kranke leben in diesem Rahmen, andere in Wohngruppe­n oder nutzen Angebote von Tagesklini­ken.

Politische Querelen

Nur Gutes weiß Professor Steinert über die Zusammenar­beit nun schon seit Jahren mit dem übergeordn­eten Sozialmini­sterium in Stuttgart zu berichten. Das war aber keineswegs immer so. In den 1980er- Jahren zog sich der damalige, in Fachkreise­n hoch angesehene und couragiert­e Chef in Weissenau, Günter Hole, den Zorn von Sozialmini­sterin Barbara Schäfer (CDU) zu. Als „Spiegel-Affäre“hat die Auseinande­rsetzung damals Schlagzeil­en gemacht. Hole hatte, frustriert durch gescheiter­te Pflegesatz­verhandlun­gen und einen Reformstau, zugelassen, dass ein Journalist des Nachrichte­nmagazins „Der Spiegel“im Krankenhau­s gründlich recherchie­rte. 1987 erschien dessen kritischer Bericht über noch immer bestehende Missstände in der Versorgung psychisch kranker Menschen. Daraufhin wurde der Professor nach Stuttgart zitiert und von der Ministerin regelrecht fertiggema­cht. „Das unangenehm­ste Gespräch, das ich je zu führen hatte“, sollte er sich später erinnern.

Debatte im Landtag

Aber Hole stand gleichwohl nicht auf verlorenem Posten. Die Direktoren der anderen Psychiatri­schen Landeskran­kenhäuser sprangen ihm bei, auch die Kirchen und Medien. Das Anliegen des Weissenaue­r Klinikchef­s, endlich mehr für seine Ärzte, das Pflegepers­onal und die Patienten zu erreichen, wurde zum Politikum: Untersuchu­ngsauschus­s, hitzige Debatte im Landtag. Und siehe da: Letztlich bewirkte Holes Zivilcoura­ge, mit der er für die gute Sache kämpfte, unter anderem eine „wesentlich­e Verbesseru­ng der Personalsi­tuation in der Psychiatri­e“, wie der stellvertr­etende ärztliche Direktor Manfred Kretschmer in seinem Buch über die Geschichte der Weissenau bilanziert­e. Als das Krankenhau­s das hundertjäh­rige Jubiläum feierte, glänzte die Ministerin, noch immer stocksauer, allerdings ostentativ durch Abwesenhei­t und ließ sich durch einen Hilfsrefer­enten vertreten. Als Günter Hole aber 1993, gesundheit­lich angeschlag­en nicht zuletzt durch die rüde Behandlung im Ministeriu­m, hoch geehrt in den Ruhestand verabschie­det wurde, heftete ihm die neue Sozialmini­sterin Helga Solinger (SPD), inzwischen Nachfolger­in der verärgerte­n CDU-Dame, das Bundesverd­ienstkreuz an. Solinger hatte bereits vorher im Untersuchu­ngsausschu­ss zu ihm gehalten. Das alles liegt nun lange zurück. Und dass zum Festakt 125 Jahre Psychiatri­e in Weissenau am kommenden Freitag, 31. März, der amtierende Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) erscheint und eine Rede hält, ist selbstvers­tändlich.

 ?? FOTOS: ROLAND RASEMANN (1)/ERNST FESSELER (4)/DPA (1)/ZFPARCHIV (1) ?? Hinter dem Kloster sind die Anlagen der Weissenau zu sehen.
FOTOS: ROLAND RASEMANN (1)/ERNST FESSELER (4)/DPA (1)/ZFPARCHIV (1) Hinter dem Kloster sind die Anlagen der Weissenau zu sehen.
 ??  ?? In Gesprächsk­reisen wird über psychische Probleme gesprochen.
In Gesprächsk­reisen wird über psychische Probleme gesprochen.
 ??  ?? Moderne Architektu­r 1936 – gleichzeit­ig ein Ort der Verbrechen.
Moderne Architektu­r 1936 – gleichzeit­ig ein Ort der Verbrechen.
 ??  ?? Arbeiten in der Gärtnerei.
Arbeiten in der Gärtnerei.
 ?? : ?? In der Weberei.
: In der Weberei.
 ?? FOTO: DOKUMENTAT­IONSSTELLE HARTHEIM, ABHOLUNGSB­US MIT FAHRER, CC BY-SA 3.0 ?? Einer der grauen Busse in der NSZeit.
FOTO: DOKUMENTAT­IONSSTELLE HARTHEIM, ABHOLUNGSB­US MIT FAHRER, CC BY-SA 3.0 Einer der grauen Busse in der NSZeit.
 ??  ??
 ??  ?? In der Therapie.
In der Therapie.

Newspapers in German

Newspapers from Germany