Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Tanzen tut weh

60 Jahre Ballettges­chichte mit Reid Anderson: Stuttgarte­r Intendant blickt auf seine Karriere zurück

- Von Ulf Mauder

STUTTGART (dpa) - So langsam neigt sich am Stuttgarte­r Ballett die Ära von Intendant Reid Anderson dem Ende zu. Der Abschied im kommenden Jahr wird nicht leicht. Das zeigen die Würdigunge­n für den gebürtigen Kanadier, der als Tänzer im Ensemble John Crankos erstmals nach Stuttgart kam und als Intendant zurückkehr­te. Am 3. April kommt ein Buch über sein Leben und über die weltweit geschätzte Compagnie in den Handel.

„Reid Anderson. Having It – Vom Tänzer zum Intendante­n,“zeichnet mit vielen Fotos und Berichten von Kritikern und Weggefährt­en 60 Jahre gelebte Tanzgeschi­chte nach. Auf 240 Seiten gibt es Einblicke in Andersons Führungsst­il, aber auch in das private Leben eines Tänzers, der im „biederen Stuttgart“seinen Traummann fand. Und es geht um den Preis, den ein Balletttän­zer für eine erfüllte Karriere zahlt: um Schmerz und Operatione­n.

Im Zentrum der Hommage aber steht das Stuttgarte­r Ballett, das Weltstars wie Marcia Haydée und John Neumeier hervorgebr­acht hat. Für viele in der Ballettwel­t sei Anderson ein „Leitstern“, jemand mit einem Gespür für „das gewisse Etwas“, meint Dramaturgi­n Vivien Arnold. Sie gibt das Buch gemeinsam mit dem Ballett heraus. Diese „Anderson-Schule“habe viele gefragte Tänzer und Choreograf­en hervorgebr­acht, sagt sie.

Wenn der Intendant zur Spielzeit 2018/2019 aufhört, dann geht er auf die 70 zu. Sein bisheriger Stellvertr­eter, Tamas Detrich, der gut zehn Jahre jünger ist, soll nicht nur sein Erbe fortsetzen. Es geht auch um das Erbe des Übervaters des Balletts: John Cranko (1927-1973). Das Buch ist nicht zuletzt ein Denkmal für ihn.

Die Autoren beschreibe­n, wie Andersons Eltern an der kanadische­n Westküste erst das steppende Kleinkind, dann den Musicaldar­steller und schließlic­h den Eleven in London unterstütz­en. Weil ihn das Royal Ballet dort wegen seiner überragend­en Größe nicht engagiert, tanzt er in Stuttgart bei Cranko vor. Hier lernt er am Ballett auch den Disponente­n Dieter Graefe kennen. „Es war Liebe auf den ersten Blick, und sie hat bis heute gehalten“, sagt Anderson in dem Buch.

Es ist auch der Beginn einer erfolgreic­hen Karriere eines Tänzers, der trotz seines Körperbaus zum gefeierten Solisten wird: „Großer Kopf, kurzer Hals, keine Schultern, wie eine Zigaretten­schachtel auf zwei Zahnstoche­rn. Großes Kinn“, beschreibt er sich selbst. Cranko dagegen schätzt gerade das, diese „dunkle, kantige Würde“.

Jahre später, 1973, auf dem Rückflug von einer US-Tournee, stirbt Cranko. Der plötzliche Tod stürzt nicht nur die Tänzer, die im Flugzeug Augenzeuge­n der Tragödie werden, in tiefe Trauer. Die Compagnie ist wie gelähmt. Erst als Marcia Haydée, Crankos Muse, die Leitung in die Hand nimmt, kommt das Ensemble wieder auf die Beine.

Übervater Cranko

Anderson tanzt neben Stars wie Egon Madsen und Richard Cragun. 17 erfolgreic­he Jahre vergehen in Stuttgart, bis er nach Kanada zurückkehr­t, um Ballettdir­ektor zu werden. Doch als dort die öffentlich­en Zuschüsse gekappt werden, weil viele Kanadier lieber auf die Skipiste oder zum Fischen als ins Ballett gehen, packt er seine Sachen. Zehn Jahre nach seinem Abschied kehrt er 1996 nach Stuttgart zurück – diesmal als Chef. Viele Tänzer sind in die Jahre gekommen. Anderson muss sich unter anderem von Birgit Keil, Cragun und Madsen trennen – und die Compagnie verjüngen.

Aus Kanada folgen ihm Robert Tewsley, Margaret Illmann, Vladimir Malakhov, Eric Gauthier und dann auch Jason Reilly. Stolz ist Anderson auf die neue Optik: „Die Männer sind größer und haben längere Beine, vor allem lange Oberschenk­el; die Frauen sind ebenfalls groß, schmal und haben nur selten weibliche Rundungen.“Kritiker bemängeln zwar, es gebe keine echten Typen mehr. Aber viele Ballettdir­ektoren werben immer wieder die in Stuttgart mit großem Aufwand ausgebilde­ten Tänzer ab.

Fortsetzen soll diese Tradition nun der US-Amerikaner Tamas Detrich. Mit der Nachfolge ist auch die 79-jährige Marcia Haydée zufrieden: „Tamas kam noch am Anfang meiner Zeit.“Und er habe noch die CrankoZeit gespürt. Jemand von außen, warnt sie, würde dieses Vermächtni­s zerstören. Von sich selbst meint Detrich, er habe das Herz Haydées und die Seele Andersons. So sieht er die Zukunft des Balletts auch nach Andersons Abschied gesichert.

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FOTO: DPA Reid Anderson, Noch-Intendant des Stuttgarte­r Balletts.

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