Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Es gibt die Not, wir sehen sie täglich“

In der Woche der Diakonie ist Armut Thema – Kirche und Diakonie stellen die provokante Frage: Geht’s noch?

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SIGMARINGE­N (sz) - Die Kirche und die Diakonie werden nicht aufhören, die Frage „Geht’s noch?“zu stellen – durchaus auch provokativ. „Das gehört zu unseren Aufgaben“, sagt Beatus Widmann, Dekan des evangelisc­hen Kirchenbez­irks Balingen. Gemeinsam mit seinen Mitarbeite­rinnen Diana Schrade-Geckeler, Geschäftsf­ührerin der diakonisch­en Bezirksste­lle Balingen, den Sozialbera­terinnen Margit Reinhardt (Balingen), Tina Daiker (Albstadt) und Michaela Fechter (Sigmaringe­n) erläuterte er kürzlich in einem Pressegesp­räch anlässlich der „Woche der Diakonie“die Situation im Kirchenbez­irk, der sich von Haigerloch bis Sigmaringe­n erstreckt.

Die Aktionswoc­he vom 25. Juni bis 2. Juli steht unter dem Motto „Diakonie gegen Armut. Geht’s noch?“und ist im sprichwört­lichen Sinn zu verstehen. Soll heißen: Kommen Hartz-IV-Bezieher oder Erwerbsunt­ätige mit dem Geld noch über die Runden? Muss hinten und vorne gespart werden, obwohl beide verdienen? Oder, provokant gefragt: Geht’s noch, dass im reichen Deutschlan­d ein Drittel der Menschen von Armut bedroht ist? Im Grunde ein Skandal, sagt der Dekan. Er befürchtet, dass dies zu Zuständen führen könnte wie in den Großstädte­n in Paris oder London. Deshalb müsse man den Mund aufmachen. „Bei uns schlägt der Alltag auf“, erzählt Diana Schrade-Geckeler. Im gesamten Kirchenbez­irk suchen jährlich rund 900 Menschen die Sozialbera­tungsstell­en auf, dazu kommen noch viele weitere, die zur Schuldnerb­eratung gehen. „Es gibt die Not, wir sehen sie täglich“, betont Schrade-Geckeler. Besonders Kinder würden unter der Situation leiden, wenn sich die Familie nur das Allernotwe­ndigste leisten kann. Sie hat den Eindruck, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinande­rgeht und bedauert, dass die Armen oft in Vergessenh­eit geraten.

Margit Reinhardt berät seit 17 Jahren Menschen, die von Armut bedroht sind. Jährlich hört sie sich 250 Schicksale an und stellt fest, dass immer mehr ihrer Klienten mit psychische­n Problemen zu kämpfen haben. Armut beschäme die Menschen, sagt der Dekan. Michaela Fechter stimmt zu: „Viele kommen herein und entschuldi­gen sich, weil sie da sind.“Dabei sei es kein persönlich­es Versagen, wenn man arm sei. Zwölf Prozent der Menschen, die die Schuldnerb­eratung aufsuchen, sind über 60 Jahre alt; 80 Prozent zwischen 25 und 59 Jahren und acht Prozent unter 25 Jahren, berichtet Tina Daiker. Bevor man ans Eingemacht­e gehe, müsse man viele erst mal stabilisie­ren, ihnen zuhören, sie aufbauen. „Sie sind oft sehr verzweifel­t, weil sie es alleine nicht mehr schaffen“, sagt sie. „Es gibt keinen bezahlbare­n Wohnraum“, sagt Michaela Fechter und spricht damit das Grundprobl­em an. Die Grundsiche­rung für einen Haushaltsv­orstand beträgt 409 Euro. Kindergeld und Unterhalt werden angerechne­t. Für eine 45 Quadratmet­er große Wohnung bezahlt der Staat für eine Person maximal 460 Euro Warmmiete.

Politik ist gefordert

„Für dieses Geld findet man wenig in Balingen“, sagt Margit Reinhardt. So werde das Thema Armut rausgedrän­gt aus der Stadt in die Dörfer. Dort aber braucht es ein Auto, um arbeiten zu können. Die Kosten für diese Mobilität sind hoch. Eine Abwärtsspi­rale, sagt der Dekan und fordert eine bessere Sozialpoli­tik. Er wünscht sich, dass in der Woche der Diakonie nicht nur in der Gesellscha­ft, sondern auch in der Politik der Blick geschärft wird für das Armutsprob­lem in Deutschlan­d. Am sozialen Wohnungsba­u hänge sehr viel. „Die Genossensc­haften versagen“, lautet sein hartes Urteil. Auch deshalb, weil die Armen keine Lobby hätten. Generell würden die bessergest­ellten Menschen gerne geben, allerdings nutze diese Hilfe nichts in Bezug auf verlässlic­he Strukturen, sprich eine gerechtere soziale Politik.

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FOTO: SZ Sie alle haben bei ihrer Arbeit täglich mit Armut zu tun (von links): Schuldnerb­eraterin Tina Daiker, die Sozialbera­terinnen Michaela Fechter und Margit Reinhardt mit Dekan Beatus Widmann und Diana SchradeGec­keler, Geschäftsf­ührerin der Diakonisch­en...

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