Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Protest an der Brücke
Erstmals fährt ein Atommüll-Schiff auf einem Fluss in Deutschland – Grünen-Umweltminister kann „gut damit leben“– Aktivisten überlisten die Polizei
BAD WIMPFEN (lsw) - Plötzlich hängen sie da. Vier Aktivisten, blitzschnell abgeseilt von der NeckarBrücke von Bad Wimpfen. An alles schienen die Sicherheitskräfte gedacht zu haben beim umstrittenen ersten Transport von Atommüll auf dem Neckar. Und nun das: Umweltschützer hängen rund zwei Meter über dem Fluss und zwingen das Spezialschiff mit den Castorbehältern zu einer unerwarteten Pause. Heftig weht das Banner der Aktivisten mit der Aufschrift „Verhindern statt verschieben“im Wind. Unten auf dem Neckar kreisen kleine Polizeiboote um die Kletterer wie Fische um einen Köder.
„Sie haben uns überrascht“, räumt Polizeisprecher Carsten Diemer ein. Die Mitglieder der Umweltschutzorganisation Robin Wood hatten die Nacht im Stahlgerippe an der Unterseite der Autobrücke verbracht und konnten unerwartet zuschlagen. An den Gesichtern der Umweltschützer am Ufer lässt sich ablesen, dass sie den Protest als Erfolg werten. „Dieser ganze Transport ist unsinnig und gefährlich. Wir wollen darauf aufmerksam machen – und ich glaube, das ist gelungen“, sagt Julian Smaluhn von Robin Wood. Friedlicher Protest sei wichtig.
Erst nach gut einer Stunde beendet die Polizei die Aktion. Extra herangefahrene Spezialkräfte seilen die Aktivisten behutsam ab. „Wir haben zwar Puffer eingeplant, aber eine Verzögerung ist nicht wegzudiskutieren“, räumt ein Polizeisprecher ein. Er spricht von einer Straftat: „Die Demonstranten erwartet eine Anzeige wegen gefährlichen Eingriffs in den Verkehr sowie wegen Nötigung.“Die Organisatoren des Transports würden möglicherweise zudem eine Erstattung der Kosten fordern. Von Protesten bei früheren Castortransporten auf der Straße oder auf der Schiene ist der Zuschauer jedoch andere, gewaltsamere Szenen gewohnt.
Vier weitere Transporte folgen
Erstmals fährt ein Atommüll-Schiff auf einem Fluss in Deutschland. Immerhin vier weitere CastorFahrten auf dem Neckar zwischen Obrigheim und Neckarwestheim will der Energieversorger EnBW in diesem Jahr noch unternehmen. Aktivisten und Atomkraftkritiker dürften den „Coup von Bad Wimpfen“als Ermutigung zu weiteren Aktionen sehen.
Letztlich nimmt der 107,05 Meter lange Schubverband mit seiner heiklen Fracht trotzdem weiter Kurs auf sein Ziel. Nach rund 13 Stunden Fahrt kommt der Transport am Mittwochabend in Neckarwestheim an. Im dortigen Zwischenlager will EnBW insgesamt 342 ausgediente Brennelemente vom stillgelegten Atomkraftwerk Obrigheim unterbringen. Das Argument des Unternehmens: Besser eine Lagerung in Neckarwestheim, in dessen Zwischenlager noch Platz ist, als der Bau eines weiteren Zwischenlagers in Obrigheim. Von den Behörden in Stuttgart und Berlin ist das abgesegnet. Kritiker sind aber gegen eine solche Strategie.
Während am Neckar zwei Polizeihubschrauber vor dunklen Wolken rattern und schwere Regentropfen auf Polizeimützen prasseln, denken Passanten über den Protest der Aktivisten nach. „Es nötigt mir Respekt ab, dass sich die Leute für ihre Idee so einsetzen“, sagt Stefan Nietsche. Der 32-Jährige findet es „grundsätzlich gut“, dass eine solche Demonstration in einer demokratischen Gesellschaft möglich ist: eine Willenskundgebung ohne Gewalt – von beiden Seiten.
„Schizophrenie der Geschichte“
Nur einige Kilometer weiter steht Baden-Württembergs Umweltminister Franz Untersteller an der Schleuse Kochendorf in Bad Friedrichshall. Ein Grünen-Politiker, der umstrittene Castortransporte verteidigt, wirkt immer noch ungewohnt. „Es spricht alles dafür, radioaktive Abfälle von drei auf zwei Standorte zu konzentrieren“, sagte er. Durch die Verlagerung der insgesamt 15 Castorbehälter könnten in Obrigheim „Jahrzehnte früher wieder neue Wiesen entstehen“. Die dunkle Windjacke offen über dem weißen Hemd, den Kragen hochgeschlagen, steht Untersteller da und nennt sich selbst einen Kernkraftgegner.
„Irgendwo ist es eine Schizophrenie der Geschichte, dass ich heute den Müll mit wegräumen kann, den andere uns hinterlassen haben“, sagt der gebürtige Saarländer und wirkt mürrisch. Mit der Entscheidung, den Atommüll über 50 Kilometer hinweg per Schiff zu transportieren, „kann ich sehr gut leben“, sagt er.
Auch aus seinem Ministerium heißt es am Mittag, die Robin-WoodParole von Bad Wimpfen – „Verhindern statt verschieben“– sei keine Lösung. „Das Zeug ist da! Verhindern und Verantwortung dafür übernehmen – das ist es, was wir tun“, betont das Umweltministerium per Twitter. Spätestens beim nächsten Castortransport neckaraufwärts werden die Argumente wohl erneut aufeinanderprallen.