Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Ein Piks kann Leben retten
Baden-Württemberg ist bundesweit Schlusslicht bei Impfungen – Politik setzt auf Aufklärung statt Impfpflicht
MÜNCHEN - In keinem anderen Bundesland werden Kinder laut einer Studie so selten und spät geimpft wie in Baden-Württemberg. Das kann verheerende Folgen haben, warnen Mediziner. Sie klagen über das Misstrauen der Eltern und über das Zögern der Politik.
Manchmal ist er fassungslos. Professor Johannes Hübner vom Haunerschen Kinderspital in München behandelt kleine Patienten, deren Krankheiten mit einem einzigen Piks zu verhindern gewesen wären. Neulich kam eine Mutter mit ihrem Neugeborenen. Diagnose: Keuchhusten.
Sie hatte ihre größeren Kinder nicht impfen lassen. „Weil im Internet stand, dass die Krankheit nicht so schlimm ist“, sagt Hübner, der die Abteilung für pädiatrische Infektiologie leitet. Der dreijährige Sohn der Frau steckte daraufhin das Baby an. Doch Pertussis, wie Keuchhusten in der Fachsprache heißt, kann für Neugeborene tödlich enden. „Säuglinge husten häufig nicht, sondern hören einfach nur auf zu atmen. Diese Aussetzer sind eine Ursache für den plötzlichen Kindstod“, sagt der Mediziner.
Krankheiten wie Mumps, Masern und Keuchhusten können lebensbedrohlich werden. Besiegt sind sie in Deutschland noch lange nicht. Im Gegenteil: Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gab es in Baden-Württemberg nach Auskunft des Ministeriums für Soziales und Integration in Stuttgart mehr als doppelt so viele Masernfälle wie im Vorjahreszeitraum.
Der Grund: Es wird zu wenig, zu spät oder überhaupt nicht geimpft. „Eltern sind durch Fehlinformationen verunsichert oder vergessen den Impftermin“, so Hübner. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) will daher den Besuch von Kindergärten davon abhängig machen, ob die Kleinen geimpft sind. „Sehr junge Kinder und Kinder, die wegen bestimmter Erkrankungen nicht geimpft werden können, haben ein Recht auf den gefahrlosen Besuch von Kitas und Schulen“, sagt BVKJ-Präsident Thomas Fischbach.
Impfquoten steigen
Doch die Landespolitik reagiert zurückhaltend. Dabei ist Baden-Württemberg, wenn es um die Impfquoten geht, bei Masern, Mumps und Keuchhusten das Schlusslicht der Republik. Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) weist aber darauf hin, dass zur Verbesserung des Impfschutzes in der Bevölkerung in letzter Zeit auf Bundesebene verschiedene gesetzliche Regelungen auf den Weg gebracht worden seien. Dazu gehört beispielsweise eine verpflichtende Impfberatung vor Eintritt in eine Kindertagesstätte.
Zudem würden die Impfquoten einen langsamen, aber kontinuierlich steigenden Trend aufweisen. „Es kann daher davon ausgegangen werden, dass durch verstärkte Aufklärung und Information eine weitere Steigerung der Impfquoten in BadenWürttemberg erreicht werden kann und die Einführung einer Impfpflicht beispielsweise für Masern nicht erforderlich ist“, so Lucha.
Kinderarzt Johannes Hübner zweifelt allerdings daran, ob weitere Aufklärungskampagnen Erfolg haben werden. „Das machen wir seit 30 Jahren und es hat uns nicht weitergebracht“, so der 57Jährige. „Wir appellieren oft erfolglos an die Eltern.“Einer Impfpflicht steht er positiv gegenüber. Gerade Säuglinge und chronisch Kranke, die nicht geimpft werden können, seien auf den sogenannten Herdenschutz angewiesen. Und der bestehe nur dann, wenn 92 bis 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. „Stellen Sie sich vor, Ihr Neugeborenes stirbt, nur weil ein anderer sein Kind nicht geimpft hat. Wir müssen auch für unser Umfeld Sorge tragen“, betont Hübner, selbst Familienvater. In Baden-Württemberg liegt die Impfquote für die zwei Masern-Impfungen bei Schuleintritt laut Robert-Koch-Institut aber unterhalb von 90 Prozent.
Skeptische Patienten
Eltern gut zu beraten und ihre Sorgen zu entkräften, koste Zeit. Dabei seien die militanten Impfgegner gar nicht das Hauptproblem. „Die sind zwar laut und präsent, aber in der absoluten Minderheit.“Vielmehr gehe es darum, Fake News über Impfschäden oder die gierige Pharmaindustrie zu entkräften. „Wenn ein Kfz-Mechaniker einem Akademiker sagt, die Zylinderkopfdichtung muss getauscht werden, lässt er das machen. Aber wenn wir Mediziner sagen, diese Impfung ist wichtig, wird das angezweifelt und erst mal im Internet nachgeforscht“, sagt Hübner.
Wichtig sei es zudem, die Kinder rechtzeitig zu immunisieren. Nur so entstünden keine Impflücken. Gerade bei Kleinkindern sei der Verlauf bei Masern oft am heftigsten, manchmal tödlich. „Ich sehe jedes Jahr Kinder, bei denen es zu dauerhaften neurologischen Schäden wie Lähmungen oder geistiger Behinderung gekommen ist.“
In Baden-Württemberg gibt es jedoch Gebiete, in denen die Masern-Impfquote gerade bei Kleinkindern deutlich unter dem ohnehin schon niedrigen Bundesdurchschnitt von 63,1 Prozent liegt. In Ravensburg erhielten nach einer Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung nur 51 Prozent der Kinder im Alter von bis zu zwei Jahren die laut der Ständigen Impfkommission notwendige zweifache Impfung gegen Masern. In Freiburg waren es 52 Prozent. Ähnlich sieht es beispielsweise im Bodensseekreis, in Konstanz sowie dem Schwarzwald-Baar-Kreis und dem Ostalbkreis aus.
Doch nicht nur bei den Kindern muss angesetzt werden. Die meisten Impflücken bestehen bei den Erwachsenen. „Viele wissen noch nicht mal, wo ihr Impfpass liegt“, so Hübner. Aber gerade wer schwanger werden möchte oder vor der Geburt eines Babys steht, sollte seinen Impfschutz überprüfen. „Babys haben nur einen Nestschutz, wenn auch ihre Mütter gegen Masern geimpft sind“, sagt Hübner.