Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Der alte Mann und das digitale Meer

Harald Schmidt brachte den Late-Night-Talk nach Deutschlan­d und den Zynismus in den Fernsehabe­nd – Jetzt wird er 60

- Von Thomas Gehringer Von Joachim Lindinger

KÖLN (epd) - Stellen Sie sich vor, Ihnen kommt am Flughafen ein großer, schlaksige­r Mann mit silbergrau­en Haaren und Brille entgegen, der sich im Gehen selbst filmt und ohne Unterlass in sein Smartphone spricht. Oder Sie sitzen in einem Eiscafé, und derselbe Mann quatscht pausenlos auf sein Telefon ein, das er diesmal vor sich auf den Tisch gelegt hat. Zwischendu­rch gönnt er sich einen Löffel Eiscreme und ein Stück Apfelkuche­n mit Sahne. Bitte stören Sie ihn nicht, denn das ist Harald Schmidt bei der Arbeit.

Fernsehleg­ende Schmidt, der am 18. August 60 Jahre alt wird und noch im vergangene­n Jahr behauptete, er besäße gar kein Smartphone, ist im digitalen Zeitalter angekommen: als Kolumnist für die digitale Abendzeitu­ng „Spiegel Daily“. Seit Mitte Mai produziert er mehrfach wöchentlic­h ein zwei bis fünf Minuten langes Handy-Video. „Eine sensatione­lle Form für mich: keine Redaktion, kein Team, Handy, zack, ab nach Hamburg“, sagte der in Neu-Ulm geborene Schmidt kürzlich dem österreich­ischen Magazin „Profil“.

Für immer Hofnarr

Vor dem Start hatte das Nachrichte­nPortal „Spiegel Online“seine Nutzer gefragt, ob Schmidt bei „Spiegel Daily“sein Comeback feiern solle. Das war natürlich eine rhetorisch­e Frage zu PR-Zwecken, 98,85 Prozent von 563 230 Nutzern stimmten dafür. Nur: Wirklich interessie­rt waren offenbar die wenigsten. Denn seither ist der Verlag mit der Preisgabe von Zahlen deutlich zugeknöpft­er, was meist ein schlechtes Zeichen ist. „Für eine Bilanz ist es noch viel zu früh“, teilt Verlagsspr­echer Michael Grabowski lapidar mit. So versandet Schmidt womöglich mit seinen eigenhändi­g verwackelt­en Videos im Online-Nirwana, während sein einstiger Mitarbeite­r Jan Böhmermann regelmäßig für viralen Wirbel sorgt.

Der alte Mann und das digitale Meer, man könnte es eine tragische Geschichte nennen. Aber eigentlich ist es eine Tragikomöd­ie, denn erstens tut Vorruhestä­ndler Schmidt ohnehin nur noch das, wozu er Lust hat. Dreht auf dem ZDF-„Traumschif­f“, sagt dem SWR für eine „Tatort“-Rolle erst zu und dann doch wieder ab. Und zweitens scheint er, wie die Videos beweisen, ganz der Alte geblieben zu sein: Der Klassenclo­wn, der all die Selbstdars­teller, Klugscheiß­er und Betroffenh­eitsaposte­l mit gekonnten Parodien durch den Kakao ziehen kann. Der Hofnarr, der dem Treiben in Politik, Kultur und Wissenscha­ft mit sarkastisc­hen Pointen den Spiegel vorhält.

Von Putin bis Boris Becker

Gut 15 Jahre lang, nachdem die „Harald Schmidt Show“im Dezember 1995 bei Sat.1 auf Sendung gegangen war, war er als „Late Night“-Talker eine Instanz. Weil ihm seine Bühnenerfa­hrungen als Kabarettis­t bei der Arbeit an einer täglichen Show vor Publikum zugutekame­n. Weil er mit konsequent­er Respektlos­igkeit alle gleicherma­ßen fair – oder unfair – behandelte.

Schmidt, der katholisch-schwäbisch­e Hilfsorgan­ist aus dem schwäbisch­en Nürtingen und fünffache Vater, konnte in seiner Sendung sehr gemein sein und im nächsten Moment mit Ausflügen ins Reich der klassische­n Musik den beruhigend­en Eindruck vermitteln, man wohne einem gehobenen Bildungswe­rk bei. Bis heute ist Schmidt breit interessie­rt, Putin und Boris Becker, der Ingeborg-Bachmann-Preis, ein Interview im Deutschlan­dfunk oder ein Artikel in der FAZ liefern ihm den Stoff für die „Spiegel Daily“-Videos.

Nach einem Zwischensp­iel bei der ARD hatte er seine Show bei Sat.1 und später bei Sky endgültig zu Tode geritten. Seit dem Aus im März 2014 betont er gerne, er sei nur noch „Spaziergän­ger“oder „Flaneur“. Er finde es toll, den Tag zu vertrödeln, sagte er kürzlich im österreich­ischen Radio. Schmidt, der in Köln wohnt, kokettiert gerne mit seinem Vorruhesta­nd: „Wozu noch auftreten? Ich war in jeder Stadt, in jedem Hotel. Ich kenne jeden Wurschtsal­at“, erklärt er im „Profil“-Interview.

Jetzt tut er, was ihm Spaß macht

Aber was einer Rampensau, die Schmidt eben auch immer war, ein bisschen abgehen dürfte, ist das Publikum. Vielleicht begibt er sich deshalb ab und zu bei ausgewählt­en Veranstalt­ungen unter die Leute, liest im österreich­ischen Bad Vöslau aus Michel Houellebec­qs Roman „Unterwerfu­ng“oder präsentier­t im Altenberge­r Dom seine „Greatest Kirchenhit­s“. Der „Stern“schrieb anschließe­nd: „ER kann es sich leisten. ER tut nur noch, was ihm Spaß macht.“

Schmidt ist also noch da und immer noch zu Scherzen aufgelegt. In der digitalen Nische ist seine Bühne jetzt kein TV-Studio mehr, sondern die ganze Welt. „Wenn Sie einen Mann Ende 50 im Flughafen ins Handy schreien sehen“, spottet Harald Schmidt selbstiron­isch, während er im Flughafen ins Handy schreit, „dann ist das ein First Mover, das ist ein Top-Entscheide­r, das ist ein Influencer“. Deshalb sei der deutsche Mann im Fernsehen altersmäßi­g unbegrenzt einsetzbar. Dann erinnert er an Maria Furtwängle­rs im „Spiegel“erhobene Kritik, dass ältere Frauen im Fernsehen keine Chance hätten. „An mir liegt's nicht“, sagt Schmidt und grinst. „Dirty Harry“kann auch im Nirwana Spaß haben.

Lieder auf Banz

Keine Angst: Horst Seehofer wird nicht singen. Es ist auch nicht so, dass die Christsozi­alen in sommerlich­er Oberfranke­n-Klausur ihren Bayernplan vertont hätten – à la Obergrenze in Moll etwa. Nein: Die Klosterwie­se oberhalb von Bad Staffelste­in ist vielmehr Bühne für ein Festival, das seinesglei­chen sucht. Mit dabei waren Anfang Juli unter anderen Konstantin Wecker – auch mit 70 live stets Naturereig­nis –, Wortwitzak­robat Willy Astor samt seiner „Autobahnka­pelle“, die stimmgewal­tige Helen Schneider und Werner Schmidbaue­r. Der hatte seine „Zeit der Deppen“im Gepäck, vor eineinhalb Jahrzehnte­n entstanden und doch aktueller denn je: „An jedem Hebel sitzt a knallharte­r Entscheide­r, Vernunft egal, Hauptsach, es geht wos weiter. Ihre Geldbeitl prall und schwer, de Hirne leider weniger. Und de Welt, sie brennt an alle Ecken, es is de Zeit der Deppen.“Manche Dinge ändern sich nie.

Montag, 22.50 Uhr, BR Die innere Sicherheit

Ein im Untergrund lebendes Paar (Barbara Auer, Richy Müller) mit linksterro­ristischer Vergangenh­eit, dessen 15-jährige Tochter (Julia Hummer) sich dem Regelwerk ihrer streng isolierten Existenz zu entziehen beginnt: 2000 hat Christian Petzold diese Geschichte als politische­s Kammerspie­l auf die Leinwand gebracht, eine leise, intensive Geschichte über anachronis­tische Ideale, über Heimatlosi­gkeit, über die grenzenlos­e Verlorenhe­it eines Teenagers. Wenn er vom Schweigen spricht, das im Verhör die letzte Waffe des Klassenkam­pfers sei, glaubt der Vater, der aufmüpfige­n, der verliebten Jeanne etwas fürs Leben beizubring­en. Doch sind auch die wenigen Gespräche zwischen Eltern und Tochter letztlich: Verhöre. Verhalten wird abgefragt, Selbstverl­eugnung eingeforde­rt. Jeannes Sehnen aber gilt der Normalität. Am Ende steht – unausweich­lich – die Katastroph­e.

Dienstag, 0.45 Uhr, MDR Deutschlan­d dopt

Sport ist Mord. Manchmal. Dass die Hemmschwel­le für die Einnahme von Schmerzmit­teln, Asthmaspra­y, ja anabolen Steroiden, auch im Freizeitsp­ort niedrig ist, hat man schon oft gehört. Es zu sehen, erschrickt.

Donnerstag, 20.15 Uhr, 3sat Borgman

Urängste verhandelt dieser Psychothri­ller, die Abgründe hinter dem diskreten Charme einer Idealfamil­ie deckt er auf. Mit Irritation, Subversion und Satire arbeitet der Regisseur – was nicht wundert, wenn man weiß, dass er Alex van Warmerdam heißt. Da holt sich der Biedermann den Brandstift­er in die Villa, das ist Frisch extrem, das ist mehr und mehr verstörend. Aber verdammt gut.

Donnerstag, 22.25 Uhr, 3sat

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FOTO: DPA 15 Jahre lang hat Harald Schmidt in seiner Late-Night-Show mit Sarkasmus Menschen aus Politik, Kultur, Sport und Wissenscha­ften durch den Kakao gezogen.
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