Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Tödliche Bergunfälle häufen sich
In den vergangenen Wochen ist es zu einer auffälligen Häufung von alpinen Unfällen gekommen
GURTIS (jau) - Die vergangenen Wochen hat es auffallend viele tödliche Alpinunfälle gegeben. Dies haben der Deutsche und der Österreichische Alpenverein registriert. Eine genaue Bilanz lässt sich nach ihren Angaben noch nicht ziehen. Bergexperten verweisen darauf, dass durch das meist schöne Wetter und die Urlaubszeit wesentlich mehr Menschen in die Berge gehen als sonst. Hitze hat aber Schneepassagen gefährlicher gemacht. Zudem war die Gewittergefahr groß.
GURTIS - Unterwegs auf einem glitschigen, steilen Steig Richtung Hohe Köpfe im Vorarlberger Rätikon. Sie kommen gerade so über die 2000Meter-Grenze. Die Tour mit dem Ausgangspunkt im Bergdorf Gurtis ist aber nicht ohne. Schwindelfrei sollte man sein. Ebenso ist es von Vorteil, nicht bei der ersten Gelegenheit über die eigenen Beine zu stolpern. Umso mehr erstaunt, wie sich jetzt am Sonntag einige Meter weiter vorne ein junges Pärchen langsam nach oben kämpft: sie mit BikiniOberteil und extrem kurzem JeansHöschen. Er lässt hingegen RadioMusik lustig dudeln. Beide warten kurz. Sie stellen sich vor: Anastasia und Sergej. Der sportlich wirkende Bursche fragt: „Geht’s hier zu den Hohen Köpfen?“Ja, das ist so, lautet die Antwort. Dann fällt der Blick auf das Schuhwerk der beiden: Profillose Leinenturnschuhe. Dass es diesen Leichtsinn nach jahrzehntelangen Alpenvereinswarnungen noch gibt? Man fällt fast vom Glauben ab und warnt: „Wenn Ihr den Abend noch erleben wollt, steigt zur Sattelalpe ab. Sie ist bewirtschaftet. Trinkt dort in Ruhe einen Most!“
Anastasia und Sergej bleiben zurück, kommen nur langsam weiter. Hoffentlich drehen sie um. Es gibt gegenwärtig sowieso auffallend viele Bergtote. Ein kurzer Blick auf die Unglücksliste Anfang August unterstreicht dies. So sind vor wenigen Tagen drei Menschen auf dem Weg zum 4049 Meter hohen Piz Bernina im Engadin abgestürzt. Einer davon war aus Ulm. Im Höllental bei der Zugspitze überlebte eine 39-jährige Frau eine Bergtour nicht. Bei Berchtesgaden starb eine 17-Jährige. Auch ein bereits 76 Jahre alter Mann kam dort beim Bergwandern um. In den Kreuzbergen über dem St. Galler Rheintal rutschte ein junger Bursche ab. Die Bergrettung konnte nur noch seinen Tod feststellen.
Schlechte Ausrüstung
Diese Unglücksliste ließe sich problemlos weiter verlängern. Würde man nur einige Tage weiter zurückgehen, sähe die Situation noch dramatischer aus. Was ist in den Bergen los? Liegt es an einer mangelnden Ausrüstung? Kürzlich gab es den Fall, bei dem ein Tscheche von einem Klettersteig am Arlberg abgestürzt ist. In ersten Polizeimeldungen hieß es, er habe seinen Klettergurt inklusive den Sicherungsseilen selber zusammengebastelt. Die Ermittlungen sind aber noch nicht abgeschlossen. In der Oberallgäuer Touristenhochburg Oberstdorf hat dieser Tage ein Bergwachtmitglied unter der Hand bestätigt: „Schlechte Ausrüstung gibt es immer noch, wenn auch seltener.“
Im Regelfall treten jene Kameraden mit zweifelhaftem Schuhwerk aber eher im Bereich von Seilbahnen auf – und zwar im Umfeld der jeweiligen Gipfelstation. Ein bekannter Brennpunkt ist beispielsweise die Kanzelwandbahn unweit von Oberstdorf im Kleinwalsertal. Oben reichen einige Schritte, um bereits in den Fels zu kommen. Wobei sich die Absturzgefahr in Grenzen hält. Hier sind es eher bei Sandalenkletterern verstauchte Zehen oder bei Lackschuh-Wanderern verletzte Knöchel, wenn jemand mit dem Fuß umknickt. Weitab von jeglicher Zivilisation könnten solche Klein-Unfälle durchaus fatal sein. Ist die Bergbahn aber nebenan, lässt es sich üblicherweise zurückhinken.
600 Meter in die Tiefe gestürzt
Letztlich scheint der legere Umgang mit einer bergtauglichen Ausrüstung ein Aspekt bei der Spurensuche nach der Unglücksserie zu sein. Nach Einschätzung alpiner Sicherheitsexperten ist er bei weitem aber nicht mehr der bedeutendste. Interessant ist der Blick auf das bereits erwähnte Unglück der Dreier-Seilschaft am Piz Bernina. Kurz davor hatte es dort einen weiteren Todesfall gegeben. Eine deutsche Bergsteigerin war ausgerutscht und 600 Meter in die Tiefe gefallen.
Die Unfälle geschahen auf dem Biancograt, eine beliebte Route zum Bernina-Gipfel. Sie ist schneebedeckt und zieht sich wie ein weißes Band zum Gipfel. Auch bei guten Umständen gilt das Begehen des Biancograts als anspruchsvoll. „An diesen Tagen herrschten jedoch im Gebirge wegen der großen Hitze schwierige Bedingungen“, wird Ueli Mosimann von örtlichen Medien zitiert. Er ist Sicherheitsverantwortlicher des Schweizer Alpenclubs und verweist auf Folgendes. So sei zum einen das Gewitterrisiko hoch. Des Weiteren würde durch die Hitze der Firnschnee aufgeweicht. Dies erhöhe das Risiko von Abstürzen.
Wer öfters selber in den Bergen unterwegs ist, kann den Hinweis nachvollziehen. Nicht jeder steigt aber über firnbedeckte Grate. Setzt man die Spurensuche fort, kommt rasch auch etwas recht Banales heraus: Ist Urlaubszeit und herrscht schönes Wetter in den Alpen, sind viele Bergsteiger unterwegs. „Dann geschieht eben auch mehr“, sagt Thomas Bucher, Sprecher des Deutschen Alpenvereins. Nur zur Erinnerung: Für den Augustanfang trifft das Wetter- und Ferien-Argument voll zu. Zu solchen Zeiten sind auch jene unterwegs, die sonst fern der Berge leben – etwa Niederländer. Unvergessen ist in diesem Zusammenhang ein persönliches Erlebnis unweit der Lindauer Hütte im Montafon. Eine Familie aus Den Haag mit zwei kleinen Kindern pflückte vergnügt Blumen am Aufstieg zu den gewaltigen Drusentürmen. Über ihnen hingen schwarze Wolken, Blitze zuckten bereits. Auf den Hinweis, dass es nun höchste Zeit sei, zur nächsten Hütte zu eilen, kam die unschuldige Frage: „Warum?“
Boomender Alpin-Sport
Kein Wunder, dass erfahrene Bergretter immer wieder über eine gewisse Naivität im Umgang mit alpinen Gefahren klagen. „Die Alpen sind einfach kein Freizeitpark mit einer Rundum-Glücklich-Versicherung“, heißt es aus Bergwachtkreisen. Eine alte Weisheit. Offenbar haben aber nicht alle Berggeher diesen Grundsatz verinnerlicht. Gleichzeitig boomt jedoch der Alpinsport seit den 1990er-Jahren zunehmend. Er hat sein Kniebundhosen-Image verloren. Die früher so berüchtigten kratzigen Kniestrümpfe gibt es nur noch in Erzählungen der Altvorderen. Dafür hat sich das Spektrum für die Alpinfreunde vergrößert. Mountainbiking gehört längst dazu – inklusive schweren Stürzen. Gelegenheitskletterer können sich an immer mehr üblicherweise gut gesicherten Klettersteigen versuchen. Wobei die Bergwacht routiniert darauf hinweist, dass auch dieses Tun risikobehaftet sei.
Ansonsten bleibt man in den Kreisen von Bergrettern und Alpin-Verbänden überraschenderweise eher gelassen. Grundlage dieser Haltung ist die Unglücksstatistik. In Bayern, Österreich und der Schweiz nimmt die Zahl der tödlichen Unfälle seit Jahren tendenziell ab. 2016 gab es im Freistaat 89 Alpintote, bei den Österreichern 267. Die Eidgenossen zählten 113 tödlich Verunglückte in den Bergen. Mit erfasst sind hier auch Skifahrer. Gleichzeitig erinnert etwa die Alpinpolizei Vorarlberg an den Bergboom: „Schließlich ist die Zahl der Menschen in den Bergen richtig in die Höhe geschnellt.“Der österreichische Alpenverein rechnet mit einer 20-fachen Steigerung seit 1990. Die Masse von Menschen ins Verhältnis mit den tödlichen Unfällen gesetzt, bedeute demnach: Das persönliche Risiko beim alpinen Tun sei sogar gesunken.
Gefahr der Selbstüberschätzung
Jenen, der gerade abstürzt, dürfte dies kaum trösten. Klassisch ist aber der finale Fall in die Tiefe längst nicht mehr. Aus Sektionen der bayerischen Bergwacht wird verlautbart: „Der Löwenanteil der Todesfälle machen Kreislaufversagen und Herzprobleme aus.“Dies liegt zum einen daran, dass auch das alpine Publikum älter wird. Hinzu kommt aber offenbar die Neigung, sich zu überschätzen. Untrainiert bei Hitze rasch einen Gipfel machen zu wollen, ist eben unratsam. Hierzu meint Alpenvereinssprecher Thomas Bucher: „In diesem Zusammenhang sind gerade Männer zwischen 40 und 60 Jahren eine Risikogruppe. Sie haben in der Jugend Sport getrieben, dann wegen Beruf und Familie pausiert und wollen schließlich wieder wie 18-Jährige die Berge stürmen.“
Gute Nachricht vom Hüttenwirt
Bei dieser Bemerkung fällt einem selber ein, dass man auch schon in diese Altersklasse fällt. Aber der sonntägliche Weg über die Hohen Köpfe war gut zu gehen. Sergej und Anastasia, das junge Pärchen mit den profillosen Schuhen, blieb aus dem Blickfeld verschwunden – trotz eines öfteren Blicks zurück auf den Steig hoch zum Gipfelkreuz. Vielleicht wurden sie aber in der besagten Sattelalpe gesichtet? Also rasch dort vorbeischauen. Der altbewährte Hüttenwirt Emil schenkt Most und Schnaps aus. Ob er die zwei gesehen hat? „Ja, ich glaube schon. Da hinten sind sie gesessen“, meint das beleibte Original. Am nächsten Tag gibt es auch keinen Polizeibericht über einen Unfall an den Hohen Köpfen. Offenbar ist die Geschichte mit Anastasia und Sergej gut ausgegangen.