Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Fiasko am Oberrhein

Die Sperrung der Rheintalba­hn zeigt die Empfindlic­hkeit einer der wichtigste­n Nord-Süd-Trassen Europas

- Von Stefan Jehle

KARLSRUHE - Für den 52-jährigen Diplom-Wirtschaft­smathemati­ker Matthias Lieb ist der Unfall nahe dem badischen Rastatt so was wie der „Super-GAU“. Die Vollsperru­ng der Rheintalba­hn über Wochen infolge einer verunglück­ten Tunnelbaum­aßnahme sei „symptomati­sch für den Zustand des bundeseige­nen Eisenbahnv­erkehrs in Deutschlan­d“, schimpft er. Der Zahlenexpe­rte, der die Fahrpläne der Deutschen Bahn quasi in- und auswendig kennt, ist seit 2004 Landesvors­itzender des ökologisch ausgericht­eten Verkehrscl­ubs Deutschlan­d (VCD). Eine komplizier­te Baumaßnahm­e werde „ohne ausreichen­de Risikoanal­yse und ohne einen Plan B begonnen – am Ende steht hilflos die Einstellun­g des Gesamtverk­ehrs“, sagt Lieb.

Tagelang hatte die Bahn verharmlos­end „von technische­r Störung“gesprochen. Inzwischen redet sie von „Havarie“. Der Vorfall ist mittlerwei­le bundesweit ein Thema: Seit dem 12. August ist der Bahnverkeh­r auf der Rheintalba­hn zwischen Rastatt und Baden-Baden unterbroch­en, derzeit verkehren auf der Trasse weder Personen- noch Güterverke­hrszüge. Nahe dem Rastatter Stadtteil Niederbühl senkten sich die Gleise ab, bereits fertiggest­ellte Tunnelring­e, sogenannte Tübbinge im Untergrund, hatten sich verschoben. Die Sperrung bleibt bis Oktober. Und das auf einer der meistbefah­renen, wichtigste­n Nord-Süd-Trassen in ganz Deutschlan­d. Sie ist gleichzeit­ig Teil des transeurop­äischen Güterzugsk­orridors Rotterdam-Genua.

Bereits vor der Sperrung sei die Rheintalba­hn in ihren zweigleisi­gen Abschnitte­n „an der Belastungs­grenze“gewesen. Die aktuelle Sperrung sei ein weiterer Beleg dafür, was für eine kritische Infrastruk­tur die Rheintalba­hn darstelle, beklagt Andreas Kempff. Der gebürtige Hamburger ist seit 2007 Hauptgesch­äftsführer der Industrie- und Handelskam­mer (IHK) Südlicher Oberrhein in Freiburg. Kempff hat die Befindlich­keiten am Oberrhein quasi „von der Pike auf“studiert: Vor der Tätigkeit in Freiburg leitete er den Geschäftsb­ereich „Standortpo­litik“der IHK in Karlsruhe – der eng verbunden bleibt mit der Qualität der Infrastruk­tur. Eine Feldstudie quasi am Nord-Ende der Bahntrasse.

Womöglich zu wenig investiert

Der Güterverke­hr in Europa sei „stark internatio­nal vernetzt und macht nicht an Ländergren­zen halt“, sagt Kempff. In der aktuellen Lage, nach der Havarie bei Rastatt, räche es sich besonders, dass „bei Ausweichst­recken zu wenig investiert wurde“. Zwischen Rastatt, der Südpfalz und dem benachbart­en Elsass gebe es mehrere Ausweichtr­assen – die seien aber entweder nicht elektrifiz­iert, nur eingleisig oder „mit völlig veralteter Signaltech­nik“ausgestatt­et, weiß der Freiburger IHKMann. Gerade „an grenzübers­chreitende­n Verkehrsve­rbindungen“sei gespart worden. Jenseits der Probleme, die für Handel und Gewerbe in Südbaden durch den unterbroch­enen Güterverke­hr auftreten, befürchtet Kempff kurzfristi­g auch Effekte auf den Tourismus im Schwarzwal­d. Es sei wahrschein­lich, dass Besucher „einfach nicht mehr buchen werden, wenn sie so unkomforta­bel anreisen müssen“. Der Umstieg auf Busse bei Rastatt und Baden-Baden verlängert die Reisezeite­n um bis zu einer Stunde.

Bis zu 200 Güterzüge täglich

Bis zu 200 Güterzüge täglich verkehren „in Stoßzeiten“auf der Trasse zwischen Karlsruhe und Basel, das bestätigte vergangene Woche Sven Hantel, der in Stuttgart sitzende Konzernbea­uftragte der Bahn für Baden-Württember­g. Noch ist Ferienzeit – erst im September werden die „Anforderun­gen“, wie die Bahn die Bestellung von Gütertrass­en hausintern nennt, wieder bis an die mögliche Obergrenze ansteigen. Gerade mal „16 Trassen“könnten alternativ über die Gäubahn und die Strecke Horb-Plochingen abgewickel­t werden, weitere sieben – bestätigt Hantel – sollen über die Südbahn zwischen Ulm und Friedrichs­hafen verkehren. Vernachläs­sigbare Größen.

Völlig überlastet­er Abschnitt

Der Aus- und Neubau der Rheintalba­hnstrecke steht schon seit Jahrzehnte­n auf der politische­n Agenda, geplant ist ein vierspurig­er Ausbau im gesamten Verlauf der 182 Kilometer langen Trasse. Aufgrund von Studien wurde das Bauvorhabe­n erstmals 1980 in den Bundesverk­ehrswegepl­an aufgenomme­n. Schon damals galt vor allem der Streckenab­schnitt zwischen Rastatt und Offenburg als „völlig überlastet“. Der Güterverke­hr soll künftig „entmischt“werden: Zwei Gleise wären dann nur noch für die Güterzüge reserviert, die anderen für die bis zu 250 Stundenkil­ometer fahrenden Schnellzüg­e – den ICE und grenzübers­chreitend den TGV. Fertigstel­lung, so optimistis­che Schätzunge­n, könnte im Jahr 2030 sein. Doch es hakt an allen Ecken und Enden.

Jahrelang hatte die Bahn bei Offenburg darauf gepocht, die Stadt oberirdisc­h durchfahre­n zu können: mit bis zu sieben Meter hohen Lärmschutz­wällen. Es gab Tausende von Einwendung­en. Eine Nonne, Schwester Martina von den Augustiner Chorfrauen, galt lange als Speerspitz­e der Kritiker an mangelndem Lärmschutz. Die oberirdisc­he Trasse A3 wurde 2013 endgültig als nicht genehmigun­gsfähig erklärt. Seitdem läuft ein komplett neu aufgerollt­es Planfestst­ellungsver­fahren – für einen künftig rund sieben Kilometer langen Tunnel, der Offenburg in zwei Röhren unterfahre­n soll. Wann diese Pläne baureif sein können, ist derzeit wieder völlig offen. Die Bahn selbst, so heißt es, rechnet mit der Inbetriebn­ahme „nicht vor 2035“.

Lange Jahre aufgeschob­en

In Rastatt hätte ein Tunnel schon seit 1998 in Bau gehen können, seit diesem Zeitpunkt bestand dort erstmals Baurecht. Doch dem Bund als Bauträger waren die Kosten für die Baumaßnahm­e damals zu hoch. Deshalb gab es den Auftrag an die Bahn, nochmals Alternativ­en zu prüfen. Unter anderem eine Trassenfüh­rung entlang der Autobahn 5 war lange im Gespräch. Doch diese wurde verworfen, am Ende – nach gefühlt Dutzenden von neuen Prüfaufträ­gen – blieb es beim Tunnel. Weil der ursprüngli­che Planfestst­ellungsbes­chluss – zwischenze­itlich war das Jahr 2009 erreicht – aber verfallen war, musste auch hier wieder neu geplant werden. Nun nach EU-Recht mit einem Tunnel mit zwei getrennten Röhren: Sie sind seit dem Mai 2016 in Bau. Die Ost-Röhre war kurz vor der Fertigstel­lung im Rohbau – bis zur Havarie.

Totenstill­e auf der Eisenbahn

Bereits seit 2012 in Betrieb ist dagegen der Katzenberg­tunnel, weit südlich von Freiburg im Markgräfle­r Land, gelegen zwischen Bad Bellingen und Efringen-Kirchen: mit rund 9,4 Kilometer Länge gleichzeit­ig das größte Einzelproj­ekt der Rheintalst­recke. Schon einige Jahre in Betrieb ist auch das vierspurig­e Gleis bei Baden-Baden. Auf diesem Abschnitt herrscht jedoch – aufgrund der seit dem 12. August bestehende­n Sperrung – großenteil­s Totenstill­e. Hier setzt auch die Kritik des Netzwerks Europäisch­er Eisenbahne­n (NEE), einer Lobbyverei­nigung der privatwirt­schaftlich organisier­ten Gütertrans­porteure, ein. Die Eisenbahnv­erkehrsunt­ernehmen hätten seit der Havarie derzeit „alleine rund zwölf Millionen Euro Umsatzeinb­ußen pro Woche zu verkraften“. Das NEE forderte aus dem aktuellen Anlass eine Sondersitz­ung des Ausschusse­s für Verkehr und digitale Infrastruk­tur beim Deutschen Bundestag. Die DB Tochter Bahn Cargo macht derzeit keine Angaben über Rückstaus bei Güterzügen.

Für den Karlsruher Eisenbahne­xperten Eberhard Hohnecker war schnell klar, was die Gleisabsen­kung bei Rastatt nach sich ziehen würde: „Wir Fachleute, die wir uns mit solchen Fragen beschäftig­en, wissen nur zu gut, wie sich da schnell viele Probleme bei Bahn, Spediteure­n und drum herum ergeben.“Hohnecker hatte mit einem Gutachten schon in den 1980er-Jahren mit dazu beigetrage­n, dass auf den Streckenab­schnitten zwischen Karlsruhe, Baden-Baden und Offenburg ein viertes Gleis eingeplant wird. Die Bahn selbst wollte ursprüngli­ch nur drei Gleise bauen.

Vorwürfe an die Politik

Ansonsten hält Hohnecker, seit 1994 Lehrstuhli­nhaber für Eisenbahnw­esen am Karlsruher Institut für Technologi­e (KIT/der früheren Technische­n Hochschule), mit seiner Kritik nicht hinter dem Berg: Es sei über Jahre versäumt worden, weitere Kapazitäte­n für den Güterfernv­erkehr in der Nord-Süd-Achse aufzubauen. Die Politik habe „in aller Ruhe zugeschaut, keine Initiative­n ergriffen“.

Hohnecker war vor seiner wissenscha­ftlichen Laufbahn insgesamt zwölf Jahre in Diensten der damaligen Deutschen Bundesbahn. Schon Anfang der 1980er-Jahre hätte er, wie er beteuert, im Angesicht „des autobahnäh­nlichen Ausbaus der auf die Großstädte zulaufende­n Bundesstra­ßen“gefragt: „… und was macht der Schienenve­rkehr?“Seit Jahrzehnte­n gebe es zudem, meist nur im Wahlkampf, den Politikers­pruch „Güter gehören auf die Bahn“. Das interessie­re doch niemand wirklich, bedauert er. Die Lobbyarbei­t der Bahn sei bei Weitem nicht so gut, wie jene der deutschen Autoindust­rie.

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FOTO: DPA An der Baustelle des Bahntunnel­s Rastatt fährt kein Zug mehr. Dies stellt das Gütergewer­be vor riesige Probleme.
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