Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Die Studie, die dem Sport Angst macht
Mindestens 30 Prozent der WM-Teilnehmer von 2011 waren offenbar gedopt – nur ein Bruchteil bisher aufgeflogen
KÖLN (SID/sz) - Sechs Jahre lang beschäftigte diese Studie Juristen; der Leichtathletik-Weltverband IAAF wollte die Veröffentlichung verhindern – nun sind die erschütternden Zahlen Gewissheit. Etwa 40 Prozent der Leichtathleten sollen demnach bei der WM 2011 in Daegu/Südkorea gedopt gewesen sein. Die Zahl ist ebenso erschreckend wie die Tatsache, dass damals nur 0,5 Prozent der getesteten Athleten als Sünder enttarnt wurden.
Experten sehen in der ursprünglich von der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA in Auftrag gegebenen Studie der Universität Tübingen und der Havard Medical School einen weiteren, äußerst belastbaren Beleg, dass die Zahl dopender Spitzensportler dramatisch höher liegt als von den internationalen Verbänden und Institutionen anerkannt. „Über Jahrzehnte wurde uns vorgegaukelt, dass man das Dopingproblem marginalisieren und individualisieren dürfe. Die schwarzen Schafe sind einzelne Sportler, oder ,nur’ Russland – und auf jeden Fall immer die anderen“, sagte der Sportmediziner Perikles Simon, der Co-Autor der Studie ist. „Die Wahrheit ist: Dieses Testsystem können wir komplett in die Tonne treten. Da gibt es gar nichts, keine Struktur, keine Idee, keine funktionierende Methodik.“
Die Studie belegt, dass bei der WM vor sechs Jahren mindestens 30 Prozent, im statistischen Mittel aber sogar zwischen 39,4 und 47,9 Prozent der Athleten unter Dopingeinfluss standen. Bei den Pan-Arabischen Spielen in Doha, die im selben Jahr ebenfalls untersucht wurden, waren es im Schnitt sogar 57,1 Prozent der Teilnehmer, die angaben, im Zeitraum von zwölf Monaten vor dem Wettkampf gedopt zu haben. Bei beiden Veranstaltungen resultierten die Ergebnisse aus einer anonymen Befragung unter insgesamt 2167 Athleten. Bei der WM waren es 1202 Sportler, darunter 65 deutsche, die unmittelbar nach ihrem Wettkampf auf einem Tablet zufällig ausgewählte Fragen anonym beantworteten. Aus diesen Antworrten berechneten die Wissenschaftler ihre Zielkorridore.
Korruptionsvorwürfe
Die Validität der Methode, eine sogenannte „randomisierte Antworttechnik“, mag ihre Unschärfen haben, ist wissenschaftlich anerkannt.
„Ich habe schon lange gefordert, dass diese Studie veröffentlicht wird. Im Anti-Doping-Kampf kann es nur eine Leitlinie geben: totale Transparenz“, sagte der deutsche Leichtathletik-Präsident Clemens Prokop. Auch DOSB-Präsident Alfons Hörmann begrüßte die Veröffentlichung. „All diese Studien sind nützlich. Durch jede dieser Forschungen kann man Schwachpunkte im System aufdecken und daraus weitere Strategien für die Dopingbekämpfung entwickeln“, sagte Hörmann.
Die Wissenschaftler hatten jahrelang um die Veröffentlichung gekämpft, die jetzt in einer Fachzeitschrift erfolgte. Die Uni Tübingen beklagte juristische Ausbremsversuche der IAAF. „Ich will und kann aus rechtlichen Gründen da nicht ins Detail gehen“, sagte Simon: „Wir hatten es hier mit einem Sportsystem zu tun, in dem unter dubiosen Umständen Briefumschläge voller Geld im Zusammenhang mit einer Vertuschung des russischen Dopingskandals den Besitzer wechseln und hausinterne Ethikkommissionen das nicht als Bestechung werten können oder wollen. In einem solchen Sumpf ist es sehr schwer bis unmöglich, saubere Arbeit abzuliefern.“
Zudem bricht Simon eine Lanze für die Sportler: „Der Athlet hat mit dieser hohen Quote am allerwenigsten zu tun. Er hat über Jahre hinweg verzweifelt versucht, sauber zu bleiben. Dann hat er mitunter feststellen müssen, dass seine Verbandsspitze verlogen, verbrecherisch und korrupt ist. Wenn man sagt, man muss Sportler härter bestrafen, ist man an der falschen Adresse.“