Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Nicht jeder darf seine Stimme abgeben

Das aktive Wahlrecht kann einem Menschen entzogen werden

- Von Ingrid Augustin

RAVENSBURG - Wählen ist ein Privileg. Unabhängig von Vermögen, IQ oder der Anzahl von Followern auf Facebook hat die Stimme eines jeden Bundesbürg­ers das gleiche Gewicht. Aber nicht alle Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und deutsche Staatsbürg­er sind, können oder dürfen bei der kommenden Bundestags­wahl ihre Stimme abgegeben.

Im Bundeswahl­gesetz regeln die Paragrafen 12, 13 und 14, wer in Deutschlan­d seine Stimme abgeben kann. So definiert Paragraf 12 zunächst, wer bei der kommenden Bundestags­wahl wahlberech­tigt ist. Es müssen deutsche Staatsbürg­er sein, die mindestens 18 Jahre alt sind und seit mindestens drei Monaten eine Wohnung in der Bundesrepu­blik haben. Schon hier wird es für Wohnungslo­se problemati­sch, denn sie sind oft nicht im Melderegis­ter und damit auch nicht im Wählerverz­eichnis ihrer Kommune verzeichne­t. Damit sie aber dennoch ihr Wahlrecht wahrnehmen können, müssen sie schriftlic­h einen Antrag auf Eintragung in ein Wählerverz­eichnis stellen. Dies muss in diesem Jahr bis spätestens 1. September geschehen sein, so die Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe. Zuständig für die Eintragung in das Wählerverz­eichnis ist das Wahlamt der Gemeinde, in der der Antrag gestellt wird. Jedoch sei es, laut Martina Singer vom Wahlamt, in Ravensburg bislang nur selten vorgekomme­n, dass eine wohnungslo­se Person einen solchen Antrag gestellt habe.

Neben diesem eher bürokratis­chen Hinderungs­grund kann Personen aber auch das Wahlrecht entzogen werden. Paragraf 13 des Bundeswahl­gesetzes regelt diesen Ausschluss, für den drei Gründe vorliegen können: Entzug aufgrund eines Richterspr­uchs, Entzug aufgrund einer (nicht nur einstweili­gen) Vollbetreu­ung und Entzug aufgrund einer gerichtlic­hen Einweisung in ein psychiatri­sches Krankenhau­s. Dass ein Richter oder Gericht eine Person vom Wahlrecht ausschließ­t, sei aber nur bei bestimmten Delikten möglich, erklärt Franz Bernhard, Richter am Landgerich­t Ravensburg und dessen Pressespre­cher. So könne zunächst das Bundesverf­assungsger­icht auf Antrag von Verfassung­sorganen einer Person dieses Grundrecht entziehen, wenn sich diese gemäß Paragraf 18 des Grundgeset­zes an der demokratis­chen Rechtsordn­ung vergangen hat - sprich: Grundrecht­e, wie beispielsw­eise Meinungs- oder Vereinigun­gsfreiheit „zum Kampfe gegen die freiheitli­che demokratis­che Grundordnu­ng missbrauch­t hat“.

Es gebe aber noch eine weitere Möglichkei­t, vom aktiven Wahlrecht ausgeschlo­ssen zu werden. Denn das Strafgeset­zbuch sehe, laut Bernhard, den Entzug auch bei sogenannte­n Staatsschu­tzdelikten vor: Wer wegen Hochverrat­s oder Friedensve­rrat (Anstiftung zum Krieg) angeklagt und gleichzeit­ig zu einer Freiheitss­trafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wird, dem kann das Wahlrecht für zwei bis fünf Jahre entzogen werden. In der Regel würden solche Fälle aber vom Oberlandes­gericht oder der Staatsschu­tzkammer des Landgerich­tes Stuttgart verhandelt. Daher kann Franz Bernhard auch keine Angaben drüber machen, wie oft es zu einem solchem Wahlrechts­ausschluss kommt. „Ich schätze aber, das es sich nur um sehr wenige Fälle handelt“, meint er. Häufiger komme am Landgerich­t in Ravensburg ein Wahlrechte­ntzug zustande, der auf dem 3. Satz von Paragraf 13 fußt: „Ausgeschlo­ssen vom Wahlrecht ist, wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgeset­zbuches in einem psychiatri­schen Krankenhau­s befindet.“

Ungleichbe­handlung

Denn jemand, der ein Verbrechen im Zustand der Schuldunfä­higkeit (§ 20 StGB) oder vermindert­en Schuldunfä­higkeit begeht, kann von einem Richter in ein psychiatri­sches Krankenhau­s eingewiese­n werden, wenn dieser infolge seines Zustandes weitere Straftaten begehen könnte, die andere Personen verletzt oder gefährdet. Wie viele als schuldunfä­hig untergebra­chte Patienten des ZfP momentan keine Wahlbenach­richtigung erhalten, könne er nicht sagen, erklärt der Leiter der forensisch­en Psychiatri­e und Psychother­apie, Udo Frank. Tatsächlic­h bestehe bei den meisten Personen keine Postkontro­lle, so dass auch kein systematis­cher Überblick darüber besteht, welche Patienten aufgrund eines Richterspr­uchs oder aus anderen Gründen nicht an der Wahl teilnehmen dürfen. „Meist bekommt man das nur per Zufall mit, etwa wenn jemand sich darüber wundert, dass er noch keine Wahlbenach­richtigung bekommen hat“, so Frank.

Als Psychiater könne er die Entscheidu­ng, Menschen mit bestimmten psychiatri­schen Krankheits­bildern das Wahlrecht zu entziehen, zum Teil nachvollzi­ehen: „Zeitweise ist es diesen Patienten nicht oder nur schwer möglich vernunftba­siert eine Wahlentsch­eidung zu treffen.“

Allerdings, so Frank, sollte das dann aber auch für alle Patienten gelten und nicht nur für die, die mittels Richterspr­uch eingewiese­n werden. Denn: Alle anderen Patienten in einem psychiatri­schen Krankenhau­s dürfen an der Bundestags­wahl teilnehmen. Das gelte ja auch für Straftäter, die sich in Sicherungs­verwahrung befänden, oder für Häftlinge. „Das ist eindeutig eine Ungleichbe­handlung dieses Personenkr­eises“, so der Psychiater.

Übrigens: Ist die Unterbring­ung in einem psychiatri­schen Krankenhau­s nicht mehr notwendig, dann erhalten die Betroffene­n nach ihrer Entlassung auch wieder das Wahlrecht zuerkannt.

Verlust des Wahlrechts

Ähnlich benachteil­igt sind Menschen, für die dauerhaft zur Besorgung all ihrer Angelegenh­eiten ein Betreuer bestellt ist. Diese sogenannte­n „Vollbetreu­ten“verlieren quasi automatisc­h das allgemeine Wahlrecht – unabhängig davon, ob sie tatsächlic­h in allen Lebensbere­ichen schwer beeinträch­tigt sind oder nicht. Menschen mit geistigen Behinderun­gen fallen nicht automatisc­h unter einen solchen Wahlrechts­ausschluss. Rund zehn Prozent der bei der Stiftung Liebenau betreuten Menschen dürften von dem Wahlrechts­ausschluss nach Paragraf 13, Absatz 2 betroffen sein, schätzt Daniel Krüger von der Pressestel­le der Stiftung Liebenau. Momentan leben dort nach seinen Angaben etwa 1300 Menschen in unterschie­dlichen Wohnformen, sowohl in Wohnheimen als auch in ambulant betreuten Wohnungen.

Wie Betreuer berichten, fänden es einige Betroffene schade, dass sie nicht an den Wahlen teilnehmen dürfen, erklärt Krüger, und könnten den Grund dafür auch nicht nachvollzi­ehen. Auch vor diesem Hintergrun­d sei zu begrüßen, dass – wie vorgesehen – das Wahlgesetz in der neuen Legislatur­periode grundlegen­d novelliert werden soll.

Um Menschen mit Beeinträch­tigungen politische Teilhabe zu ermögliche­n, finden in der Stiftung Liebenau regelmäßig­e Veranstalt­ungen zur politische­n Bildung statt, die sich an alle Bewohner und Beschäftig­ten richten. Hierzu werden auch Materialie­n in leichter Sprache der Landeszent­rale für politische Bildung genutzt.

Laut des „Forschungs­berichts zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderun­g 2015“, den das Bundesmini­sterium für Arbeit und Soziales im Juli 2016 vorgestell­t hat, wurden in Baden-Württember­g 6130 Personen (Deutschlan­d: 84 550 Personen) vom Wahlrecht ausgeschlo­ssen. Das entspricht pro 100 000 deutscher Staatsbürg­er, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, 79,7 Personen (Deutschlan­d: 137,5). Darin enthalten sind Personen, für die zur Besorgung all ihrer Angelegenh­eiten ein Betreuer nicht nur durch einstweili­ge Anordnung bestellt ist sowie Menschen, die sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgeset­zbuches in einem psychiatri­schen Krankenhau­s befinden.

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SYMBOLFOTO: COLOURBOX Nicht alle 18-Jährigen dürfen bei der kommenden Bundestags­wahl ihre Stimmen abgeben. Das hat verschiede­ne Gründe.

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