Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Das Gedächtnis der Stadt

Michael Barczyk ist seit 40 Jahren Stadtarchi­var in Bad Waldsee – Im September wird der Bergatreut­er 71 Jahre alt

- Von Karin Kiesel

BERGATREUT­E - Er weiß alles über Bad Waldsee und kennt die Stadtgesch­ichte wie kein anderer: Michael Barczyk aus Bergatreut­e ist seit 40 Jahren Stadtarchi­var – und das ehrenamtli­ch. Der pensionier­te Deutsch- und Geschichts­lehrer wird im September 71 Jahre alt und ist trotz einer gerade hinter sich gebrachten schweren Operation voller Tatendrang und Energie. „Ich liebe den Posten des Stadtarchi­vars, die Themenviel­falt ist unendlich.“

Die Stadt Bad Waldsee kennt Barczyk wie „seine Westentasc­he“, es gibt kaum eine Frage, die er nicht beantworte­n kann – sei es über die Geschichte einzelner Häuser, zur Historie der Stadt, ja sogar über die unterschie­dliche Höhe der Kirchtürme von St. Peter, denn: Der einst im Volksmund „Männerturm“genannte südliche Turm ist 11,7 Zentimeter niedriger als der nördliche „Frauenturm“. Und wenn Barczyk über derlei Details der Stadtgesch­ichte erzählt, dann nicht ohne ein spitzbübis­ches Grinsen.

Jeden Donnerstag bietet der Geschichts­experte zwischen 10 und 13 Uhr eine offene und kostenlose Sprechstun­de für interessie­rte Bürger, Schüler oder Studenten an. Was auch immer sie wissen wollen – beim Waldseer Stadtarchi­var bekommen sie Antworten oder die benötigten Unterlagen, seien es Infos zu Fundstücke­n aus dem Stadtsee, Gemeindera­tsprotokol­le seit dem Jahr 1610 oder Zeitungsar­tikel von 1833 bis heute. Erstellte Referate oder Doktorarbe­iten etwa bekommt er dann für das Archiv – eine Win-Win-Situation also.

Auch Bauträger oder Investoren informiere­n sich beim Stadtarchi­var regelmäßig über die Historie von Gebäuden. Er erklärt Interessie­rten, was ein Truchsess ist, gibt Auskünfte über die Geschichte der Rechtsprec­hung in Bad Waldsee und ist behilflich bei der Familienfo­rschung – letzteres allerdings nicht so besonders gerne, da es „viel Zeit kostet und für die Geschichte der Stadt nicht viel Nutzen hat“.

Guter Draht zu Schülern

Mit 30 Jahren kam Barczyk nach Waldsee und unterricht­e Deutsch und Geschichte am Gymnasium. „Das hat mir viel Spaß gemacht. Zu den Schülern hatte ich immer einen guten Draht“, sagt der pensionier­te Lehrer. Er selbst war schon als „kleiner junge“von Geschichte fasziniert. Märchen ohne Wahrheitsg­ehalt fand er langweilig. „Wenn aber in einer Geschichte Wahrheitsg­ehalt steckte, war ich begeistert“, sagt er und bekommt beim Sprechen ein Funkeln in die warmherzig­en Augen. Geschichte „lebendig und begreifbar machen“, das treibt den begeisteru­ngsfähigen Historiker an, der mit 31 Jahren zum Waldseer Stadtarchi­var ernannt wurde. Seine Faszinatio­n gilt dabei der Forschung, etwas „herauszufi­nden, was vorher unbekannt“war, wie er sagt. So zum Beispiel die Abbildung Hitlers im Deckengemä­lde in der Pfarrkirch­e in Rötenbach bei Wolfegg, die er entdeckt hatte. Oder seine Forschunge­n über die beiden französisc­hen Mordopfer des Todesmarsc­hes, die 1945 in Bad Waldsee erschossen wurden. Wichtig ist ihm dabei stets, dass auch die Öffentlich­keit etwas von seinen Forschungs­ergebnisse­n hat, sei es in Form eines Buches oder als kleines Nachschlag­ewerk. Interessan­t ist für Barczyk vor allem das „Lieben und Leben der einfachen Leute“, das lässt für ihn Geschichte erlebbar werden. Dazu gehört auch das Beherrsche­n verschiede­ner Sprachen – neben Englisch, Latein, Griechisch, Ungarisch und Hebräisch beherrscht er die Sonderspra­chen Jiddisch und die „Räuberspra­che“Rotwelsch. In seinem Buch „Im Spitzbuben­land. Oberschwäb­ische Räuber“gibt es nicht nur Geschichte­n beispielsw­eise über den Schwarzen Vere, sondern auch Kostproben in Rotwelsch. Zu den Aufgaben eines Stadtarchi­vars gehören neben dem Sammeln (Fundstücke, Dokumente), Bewahren (sichern und ordnen) und Auswerten (Publikatio­nen, Forschung) auch Führungen, das Erstellen von Info-Broschüren und das Zertifizie­ren von neuen Stadtführe­rn. „Sie müssen keine Prüfung ablegen wie in Ravensburg, aber nachdem wir uns mehrmals getroffen und Informatio­nen ausgetausc­ht haben, müssen sie mir eine Probeführu­ng geben“, erklärt Barczyk. Dass der Beruf als Stadtarchi­var bei vielen Menschen als langweilig oder verstaubt angesehen wird, kann er nicht nachvollzi­ehen. „Die Themenviel­falt ist unglaublic­h, es gibt so viel Spannendes zu entdecken“, sagt der Pensionär, der Ungeduld als seine größte Schwäche ansieht. In seiner Freizeit hat er seine Nase gerne in Büchern. Und wenn nicht, dann geht er gerne raus in die Natur oder er treibt Sport. „Schwimmen und Skilanglau­f liebe ich heiß und innig.“

Das Stadtarchi­v eröffnete 1992 im Klosterhof 3. Seit den 80er-Jahren stand die ehemalige Landschule leer, Architekte­n wollten darin Eigentumsw­ohnungen errichten. Als dieses Vorhaben scheiterte, kaufte die Stadt die Bauruine zurück und sanierte ganzheitli­ch. Michael Barczyk hatte vor der Eröffnung ein kleines Büro in einem Gebäude am Rathaus. Bei der Einrichtun­g und Gestaltung des Archivs im Klosterhof wirkte er entscheide­nd mit. (kik)

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FOTO: KARIN KIESEL Seit 40 Jahren ist Michael Barczyk Stadtarchi­var in Bad Waldsee.

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