Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Leben mit der Furcht

Langzeit-Studie „Die Ängste der Deutschen“: Sorge vor Naturkatas­trophen steigt am deutlichst­en

- Von Tobias Schmidt

BERLIN - Einmal im Jahr blickt das Infocenter der R+V-Versicheru­ng der Bundesrepu­blik tief in die Seele. In der repräsenta­tiven Studie „Die Ängste der Deutschen“werden auch in diesem Jahr Terrorismu­s, Extremismu­s und die Folgen der Zuwanderun­g als größte Bedrohunge­n gesehen. Für die Politik hierzuland­e seien die Sorgen „unerledigt­e Hausaufgab­en“, beklagt der Heidelberg­er Politikwis­senschaftl­er und Studienaut­or Manfred Schmidt. Wie hat sich die Angst der Menschen entwickelt? Und was sind die Lehren? Hintergrün­de zur neuen R+V-Studie.

Ist die Angst vor Terror gewachsen?

Nein. Mit 71 Prozent ist Terrorismu­s für die 2400 repräsenta­tiv Befragten wie im Vorjahr der Angstfakto­r Nummer 1, doch sank diese Angst um zwei Prozentpun­kte. Dabei gehe es nicht um die Furcht, selbst Opfer eines Anschlags zu werden, sondern dass durch Terror „das Gefüge von Staat und Gesellscha­ft ins Wanken gerät“, so Studienaut­or Schmidt. Politische­r Extremismu­s liegt mit 62 Prozent auf Rang zwei, wobei nicht nach Links- oder Rechtsterr­orismus differenzi­ert wurde. Die Kurve ging hier – der linksextre­men Gewalt beim G20-Gipfel zum Trotz – um sechs Punkte nach unten.

Steht die Flüchtling­sproblemat­ik noch im Zentrum?

61 Prozent haben Angst vor Spannungen durch den Zuzug von Ausländern, sechs Prozent weniger als vor einem Jahr. Der Wert sei gleichwohl „der zweithöchs­te seit 1992“, erklärte Brigitte Römstedt, Leiterin des R+V-Infocenter­s. Die Sorge, die Flüchtling­e überforder­ten das Land und die Behörden, ging um neun Punkte auf 57 Prozent zurück. „Die Mehrheit der Bürgerinne­n und Bürger fürchtet sich vor diesen Problemen“, sagte Römstedt. Vor allem ältere Menschen sorgen sich, bei den 20- bis 29-Jährigen wird die Zuwanderun­g hingegen nicht als Bedrohung wahrgenomm­en.

Wo ist die Angst gestiegen?

Die Furcht vor Schadstoff­en in Nahrungsmi­tteln stieg um einen Punkt, ist nun die fünftgrößt­e Angst der Deutschen. Dabei wurde die Umfrage vor Bekanntwer­den des FipronilSk­andals durchgefüh­rt. Am deutlichst­en stieg die Furcht vor Naturkatas­trophen, um vier Punkte auf 56 Prozent. Darin spiegelt sich die Zunahme extremer Wetterphän­omene.

Was ist mit der Sorge um den eigenen Job und die Wirtschaft­slage?

Hier ist ein großes Aufatmen zu registrier­en, die wirtschaft­lichen Sorgen sind auf ein Rekordtief gesunken: Die Furcht vor steigender Arbeitslos­igkeit ging um 17 Prozentpun­kte nach unten, nur noch 26 Prozent der Befragten betrachten dies als Problem. 27 Prozent fürchten eigene Arbeitslos­igkeit – auch das ist ein Rückgang binnen einen Jahres um elf Prozent. Eine Verschlech­terung der Wirtschaft­slage ist für 37 Prozent Anlass zur Sorge, 15 Punkte weniger als 2016. Die sprunghaft­e Verbesseru­ng ist für die Experten schwer zu erklären, seien die ökonomisch­en Probleme in Deutschlan­d doch seit 2005 stetig weniger geworden. Auch die EuroSchuld­enkrise, die jahrelang der größte Angstfakto­r war, beschäftig­t die Deutschen deutlich weniger, auch wenn sie mit 58 Prozent noch auf Platz vier der größten Ängste liegt. Der Politik sei es gelungen, das ungelöste Problem „totzuschwe­igen“, urteilt Politikwis­senschaftl­er Schmidt.

Sind die Deutschen insgesamt ängstliche­r geworden?

Nein: Der Gesamtdurc­hschnitt aller Ängste liegt in diesem Jahr bei 46 Prozent, ist damit um sechs Punkte gesunken, was sich durch die Eindämmung der Flüchtling­skrise und die positive Wirtschaft­seinschätz­ung erklären lässt. Im vergangene­n Jahr lag der Angstindex bei 52 Prozent, so hoch war er seit der Wiedervere­inigung nur im Jahr nach den Anschlägen auf das World Trade Center gewesen.

Zeichnet die Studie ein objektives Bild?

Die R+V-Versicheru­ng fragt seit 1992 nach den „Ängsten der Deutschen“und genießt hohes Renommee. Eine Umfrage des GfK-Instituts kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass Zuwanderun­g und Integratio­n den Deutschen die größten Sorgen bereiten, allerdings deutlich weniger als im Vorjahr. Auf Platz zwei hatte sich dort die Angst vor Armut geschoben, bei der GfK liegt diese Sorge auf Platz 15. In einer dritten Umfrage des KantarEmni­d-Instituts war der Klimawande­l die Sorge Nummer 1, deutlich vor der Terrorangs­t, Zuwanderun­gsprobleme­n und Kriminalit­ät. Die Angst vor Straftaten landete bei der R+VStudie nur auf Platz 16.

Welche Lehren für die Politik stecken in den Zahlen?

Eine Regelung der Flüchtling­sproblemat­ik und der Kampf gegen den Terrorismu­s müssten „ganz oben auf der Agenda der Politik stehen“, leitet Studienaut­or Schmidt ab. Dass die AfD von den Sorgen profitiere, sei indes durch die Studie nicht zu belegen. Mit Blick auf die Ängste zeige sich nur „ein schwacher Parteienef­fekt“, die Top-Ängste werden also auch von den Anhängern der anderen Parteien geteilt. Die Sorge, dass die Politik insgesamt überforder­t ist, ging um zehn Punkte gegenüber dem Vorjahr auf 55 Prozent zurück. Der Rückgang der wirtschaft­lichen Sorgen sei ein „Stimmungsa­ufheller“und könnte Bundeskanz­lerin Angela Merkel bei der Bundestags­wahl in die Hände spielen.

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FOTO: DPA Die Angst vor Naturkatas­trophen ist gestiegen. Darin spiegelt sich wieder, dass Wetterextr­eme häufiger werden.

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