Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Leben mit der Furcht
Langzeit-Studie „Die Ängste der Deutschen“: Sorge vor Naturkatastrophen steigt am deutlichsten
BERLIN - Einmal im Jahr blickt das Infocenter der R+V-Versicherung der Bundesrepublik tief in die Seele. In der repräsentativen Studie „Die Ängste der Deutschen“werden auch in diesem Jahr Terrorismus, Extremismus und die Folgen der Zuwanderung als größte Bedrohungen gesehen. Für die Politik hierzulande seien die Sorgen „unerledigte Hausaufgaben“, beklagt der Heidelberger Politikwissenschaftler und Studienautor Manfred Schmidt. Wie hat sich die Angst der Menschen entwickelt? Und was sind die Lehren? Hintergründe zur neuen R+V-Studie.
Ist die Angst vor Terror gewachsen?
Nein. Mit 71 Prozent ist Terrorismus für die 2400 repräsentativ Befragten wie im Vorjahr der Angstfaktor Nummer 1, doch sank diese Angst um zwei Prozentpunkte. Dabei gehe es nicht um die Furcht, selbst Opfer eines Anschlags zu werden, sondern dass durch Terror „das Gefüge von Staat und Gesellschaft ins Wanken gerät“, so Studienautor Schmidt. Politischer Extremismus liegt mit 62 Prozent auf Rang zwei, wobei nicht nach Links- oder Rechtsterrorismus differenziert wurde. Die Kurve ging hier – der linksextremen Gewalt beim G20-Gipfel zum Trotz – um sechs Punkte nach unten.
Steht die Flüchtlingsproblematik noch im Zentrum?
61 Prozent haben Angst vor Spannungen durch den Zuzug von Ausländern, sechs Prozent weniger als vor einem Jahr. Der Wert sei gleichwohl „der zweithöchste seit 1992“, erklärte Brigitte Römstedt, Leiterin des R+V-Infocenters. Die Sorge, die Flüchtlinge überforderten das Land und die Behörden, ging um neun Punkte auf 57 Prozent zurück. „Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger fürchtet sich vor diesen Problemen“, sagte Römstedt. Vor allem ältere Menschen sorgen sich, bei den 20- bis 29-Jährigen wird die Zuwanderung hingegen nicht als Bedrohung wahrgenommen.
Wo ist die Angst gestiegen?
Die Furcht vor Schadstoffen in Nahrungsmitteln stieg um einen Punkt, ist nun die fünftgrößte Angst der Deutschen. Dabei wurde die Umfrage vor Bekanntwerden des FipronilSkandals durchgeführt. Am deutlichsten stieg die Furcht vor Naturkatastrophen, um vier Punkte auf 56 Prozent. Darin spiegelt sich die Zunahme extremer Wetterphänomene.
Was ist mit der Sorge um den eigenen Job und die Wirtschaftslage?
Hier ist ein großes Aufatmen zu registrieren, die wirtschaftlichen Sorgen sind auf ein Rekordtief gesunken: Die Furcht vor steigender Arbeitslosigkeit ging um 17 Prozentpunkte nach unten, nur noch 26 Prozent der Befragten betrachten dies als Problem. 27 Prozent fürchten eigene Arbeitslosigkeit – auch das ist ein Rückgang binnen einen Jahres um elf Prozent. Eine Verschlechterung der Wirtschaftslage ist für 37 Prozent Anlass zur Sorge, 15 Punkte weniger als 2016. Die sprunghafte Verbesserung ist für die Experten schwer zu erklären, seien die ökonomischen Probleme in Deutschland doch seit 2005 stetig weniger geworden. Auch die EuroSchuldenkrise, die jahrelang der größte Angstfaktor war, beschäftigt die Deutschen deutlich weniger, auch wenn sie mit 58 Prozent noch auf Platz vier der größten Ängste liegt. Der Politik sei es gelungen, das ungelöste Problem „totzuschweigen“, urteilt Politikwissenschaftler Schmidt.
Sind die Deutschen insgesamt ängstlicher geworden?
Nein: Der Gesamtdurchschnitt aller Ängste liegt in diesem Jahr bei 46 Prozent, ist damit um sechs Punkte gesunken, was sich durch die Eindämmung der Flüchtlingskrise und die positive Wirtschaftseinschätzung erklären lässt. Im vergangenen Jahr lag der Angstindex bei 52 Prozent, so hoch war er seit der Wiedervereinigung nur im Jahr nach den Anschlägen auf das World Trade Center gewesen.
Zeichnet die Studie ein objektives Bild?
Die R+V-Versicherung fragt seit 1992 nach den „Ängsten der Deutschen“und genießt hohes Renommee. Eine Umfrage des GfK-Instituts kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass Zuwanderung und Integration den Deutschen die größten Sorgen bereiten, allerdings deutlich weniger als im Vorjahr. Auf Platz zwei hatte sich dort die Angst vor Armut geschoben, bei der GfK liegt diese Sorge auf Platz 15. In einer dritten Umfrage des KantarEmnid-Instituts war der Klimawandel die Sorge Nummer 1, deutlich vor der Terrorangst, Zuwanderungsproblemen und Kriminalität. Die Angst vor Straftaten landete bei der R+VStudie nur auf Platz 16.
Welche Lehren für die Politik stecken in den Zahlen?
Eine Regelung der Flüchtlingsproblematik und der Kampf gegen den Terrorismus müssten „ganz oben auf der Agenda der Politik stehen“, leitet Studienautor Schmidt ab. Dass die AfD von den Sorgen profitiere, sei indes durch die Studie nicht zu belegen. Mit Blick auf die Ängste zeige sich nur „ein schwacher Parteieneffekt“, die Top-Ängste werden also auch von den Anhängern der anderen Parteien geteilt. Die Sorge, dass die Politik insgesamt überfordert ist, ging um zehn Punkte gegenüber dem Vorjahr auf 55 Prozent zurück. Der Rückgang der wirtschaftlichen Sorgen sei ein „Stimmungsaufheller“und könnte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Bundestagswahl in die Hände spielen.