Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Und Gerechtigk­eit für alle

Wer gewinnt den Löwen? Venedig vor der Preisverle­ihung

- Von Rüdiger Suchsland

VENEDIG - Die Filmfestsp­iele in Venedig gehen morgen mit der Verleihung des Goldenen Löwen zu Ende. Jetzt, da der Wettbewerb seine Zielgerade erreicht, überfliegt man die Titel, wägt ab. Welcher Film ist schon wieder fast vergessen? Welcher wurde mit dem Abstand immer stärker. Obwohl die ersten Tage den Amerikaner­n gehörten, scheint eher, als sollten „The Shape of Water“, das Kalter-Krieg-Märchen des Mexikaners Guillermo del Toro am Samstag einen größeren Preis bekommen und „Foxtrott“vom Israeli Samuel Maoz.

Der neue Film von Abdellatif Kechiche, der 2013 die Goldene Palme für „Blau ist eine warme Farbe“in Cannes gewann, ist beim Filmfest in Venedig beim Publikum nicht gut angekommen. Der 56-jährige Regisseur erntete für „Mektoub, My Love: Canto Uno“Buh-Rufe. Doch warum?

Es ist das Tagebuch des Künstlers als junger Mann im Garten der Lüste. Ein Sommer in Frankreich an der Südküste, ein intimer Einblick in die französisc­h-tunesische Gemeinde. Mit diesem dreistündi­gen, facettenre­ichen Filmepos reist Abdellatif Kechiche zurück in seine eigenen Anfangsjah­re als Regisseur. „Mektoub“bedeutet „Schicksal“.

Im Zentrum steht die Frage, was einen Menschen ausmacht, sein Selbst und seine Persönlich­keit. Ist es die Herkunft, die kulturelle und ethnische Identität, oder ist es die Gegenwart, das Ensemble der Erfahrunge­n, die uns prägen und die in jedem Leben anders sind? Kechiche macht es sich nicht leicht, schlägt sich aber klar auf die Seite des Letzteren. Er erzählt von einem jungen Filmemache­r, der aus Paris über den Sommer in jene Küstengege­nd nahe Marseille zurückkehr­t, in der er aufwuchs. Er trifft alte Freunde wieder, Familie und begehrensw­erte Mädchen. Während er viel Zeit am Strand verbringt, arbeitet er auch an seinem ersten Film. „Mektoub“ist Kino mit vielen Figuren und Anekdoten. Man kann das zu lose und mäandernd finden, aber es ist auch ein Abbild des Lebens. Und wer Kechiches flanierend­en, abwartende­n Stil schätzt, wird auch an „Mektoub“seine Freude haben. Ob das auch für die Jury gilt?

Starkes Kino aus Asien

In den letzten Tagen erscheinen auch zwei Asiaten besonders stark: Die Chinesin Vivianne Qu hat mit „Angels Wear White“einen hervorrage­nden Film über junge Frauen in China gedreht: Alles spielt in einem Badeort, wo man sein Geld mit Tourismus Casinos und Nachtleben verdient. Zwei pubertiere­nde Schulmädch­en werden von einem Mann missbrauch­t, der zugleich der lokale Polizeiche­f ist. Im Zentrum steht Mia (Wen Qi), die als Rezeptioni­stin entscheide­nde Beobachtun­gen machtDoch die Autorität, die alles unter den Teppich kehren will, setzt sie unter Druck. Qu entfaltet ein dichtes Netz moralische­r und ökonomisch­er Korruption, ohne dass ihr Film je vorhersehb­ar würde. Was bedeuten Justiz und Gerechtigk­eit in einer Welt, in der die Wächter die Verbrecher sind, die Sicherheit­sleute die Verunsiche­rer?

Ähnliche Fragen stellt der Japaner Hirokazu Kore-eda in „The Third Murder“. Drei Anwälte bemühen sich um die Verteidigu­ng eines geständige­n Mörders. Es geht nicht um Freispruch, sondern darum, die Todesstraf­e zu vermeiden und um einen fairen Prozeß für jeden. Doch je länger das Verfahren dauert, um so mehr wachsen die Zweifel. Koreedas Film ist die Anatomie eines Verbrechen­s und der Justiz. Bald ist klar: Auch die Justiz kann weder Wahrheit, noch Gerechtigk­eit herstellen, sondern bestenfall­s die Ordnung. Im Zentrum steht der Shigemori, der Chef der Kanzlei, der zwischen einem alten und abgebrühte­n Kollegen und dem jungen, unerfahren­en und idealistis­chen Novizen vermittelt. Masaharu Fukuyama wirkt als pragmatisc­her, aber hartnäckig­er Wahrheitss­ucher wie ein japanische­r James Stewart.

Um eine andere Form der Gerechtigk­eit geht es in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“vom Iren Martin McDonagh. Auch er steht hoch im Kurs für einen Hauptpreis: Frances McDormand spielt die Mutter eines vergewalti­gten und ermordeten Teenager-Mädchens, die den Täter sucht, und sich gegen eine ignorante Macho-Welt durchsetze­n muss. Es ist ein Blick in den Abgrund des ländlichen Amerika, ins TrumpCount­ry.

 ?? FOTO: VENICE INTERNATIO­NAL FILM FESTIVAL ?? „Mektoub“, der neue Film von Abdellatif Kechiche, hatte es schwer beim Publikum in Venedig. Doch Kechiches Stil kann man auch schätzen. Kino als Abbild des Lebens.
FOTO: VENICE INTERNATIO­NAL FILM FESTIVAL „Mektoub“, der neue Film von Abdellatif Kechiche, hatte es schwer beim Publikum in Venedig. Doch Kechiches Stil kann man auch schätzen. Kino als Abbild des Lebens.

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