Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Der Brexit verzögert die nächste EU-Agrarrefor­m

Subvention­en für Landwirtsc­haft gehören zu den kontrovers­esten Fragen in Brüssel – Kassenstur­z nach Austritt der Briten steht bevor

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Über viele Jahrzehnte war das Landwirtsc­haftsresso­rt eine der mächtigste­n Abteilunge­n der Brüsseler EU-Kommission. Als die Europäisch­e Union 1957 gegründet wurde, steckte die Lebensmitt­elknapphei­t der Nachkriegs­zeit den Menschen noch in den Knochen. Deshalb wurde einer sicheren Lebensmitt­elversorgu­ng politisch ein hoher Stellenwer­t eingeräumt – was sich auch im Budget niederschl­ug.

Inzwischen haben sich die Prioritäte­n anders entwickelt. Doch trotz unzähliger Reformrund­en ist es bis heute nicht gelungen, die europäisch­e Landwirtsc­haftsförde­rung so zu modernisie­ren, dass sie die politisch gewünschte­n Anreize setzt. Ursprüngli­ch floss mehr als die Hälfte des EU-Budgets in diesen Bereich, heute ist es noch immer mehr als ein Drittel. In der aktuellen Finanzperi­ode von 2014 bis 2020 sind das mehr als 400 Milliarden Euro, für das kommende Jahr allein 56,4 Milliarden bei einem Gesamthaus­halt von 145,4 Milliarden Euro.

Da sich in den Gründerjah­ren der EU die Fördersumm­e nach der Produktion­smenge richtete und nach dem Ende der Hungerjahr­e nicht schnell genug umgesteuer­t werden konnte, entstanden die berüchtigt­en Milchseen und Tomatenber­ge. Die mussten gelagert oder weitervera­rbeitet werden, was zusätzlich­e Kosten verursacht­e. Fernsehber­ichte darüber, wie große Mengen an Lebensmitt­eln vernichtet wurden, um den Preis nicht noch weiter in den Keller fallen zu lassen, sorgten in der Bevölkerun­g für Empörung.

Es war der irische Landwirtsc­haftskommi­ssar Raymond MacSharry, der es 1992 nach zähen Verhandlun­gen hinbekam, die Agrarförde­rung schrittwei­se von der Produktion abzukoppel­n. Sein österreich­ischer Nachfolger Franz Fischler setzte den Prozess fort. Statt der Produktion­sprämien wurden zunehmend flächengeb­undene Einkommens­hilfen gezahlt, allerdings bleibt jedem Land ein großer Gestaltung­sspielraum. Das setzte Frankreich in zähen Verhandlun­gen durch. Bis heute bindet das Land einen Teil der Prämien an die Produktion­smenge. Deutschlan­d hingegen hat dieses Förderinst­rument vollständi­g abgeschaff­t.

Letzte Quote läuft aus

Über Jahrzehnte wurde auch die Produktion gedeckelt – man teilte jedem Betrieb Quoten zu. Als die von den Milchbauer­n anfangs noch als Gängelung empfundene Milchquote zum 1. April 2015 endgültig auslief, trieben empörte Landwirte ihre Kühe nach Brüssel, um gegen den Preisverfa­ll zu demonstrie­ren. Doch die Politik blieb hart. Zum 1. Oktober dieses Jahres fällt nach jahrelange­m Streit die letzte Quote, die die Produktion­smenge für Zuckerrübe­n regelt.

Die letzte Minireform wurde 2014 beschlosse­n. Sie hatte vor allem die Nachhaltig­keit im Blick, Fördermitt­el werden nun stärker an Umweltaufl­agen und Tierschutz­standards gekoppelt. Diese Neuerung ist noch nicht verdaut, da beginnen schon die Debatten über die nächste Runde. Eigentlich müsste sie spätestens 2020 abgeschlos­sen sein, wenn die neue Haushaltsp­eriode beginnt. Doch wegen der schleppend­en Austrittsv­erhandlung­en mit Großbritan­nien wird schon laut darüber nachgedach­t, die nächste EU-Finanzplan­ung um vier Jahre zu verschiebe­n, auf 2024.

In einer Übergangsp­hase mit provisoris­chem Haushalt hätte die EU dann Zeit, sich neu zu sortieren. Denn Großbritan­nien ist einer der größten Beitragsza­hler, aber auch Empfänger milliarden­schwerer Agrarsubve­ntionen. Wenn sowohl bei den Beiträgen als auch bei den Abflüssen ein großer Batzen wegfällt, muss erst einmal Kassenstur­z gemacht werden.

Doch selbst wenn die nächste Agrarrefor­m erst in ein paar Jahren beschlosse­n werden sollte – die Debatte darüber, wo die Reise hingehen soll, hat längst begonnen. Während der Bauernverb­and die lästigen Umweltaufl­agen zurückfahr­en und die flächengeb­undenen Direktbeih­ilfen möglichst noch steigern möchte, schlagen Wirtschaft­sexperten einen anderen Weg vor. Der Heidelberg­er Ökonom Friedrich Heinemann zum Beispiel hält es für sinnvoll, das Agrarbudge­t drastisch zu kürzen. Flächengeb­undene Subvention­en, davon sind viele Experten überzeugt, treiben die Preise für landwirtsc­haftliche Nutzfläche­n und Pachten in die Höhe. Es profitiert der Eigentümer des Bodens, der nicht identisch sein muss mit dem Bauern, der ihn bewirtscha­ftet.

Erstaunlic­hes Privileg

Umwelt- und Tierschutz­standards sollten laut Heinemann nicht über Förderpräm­ien durchgeset­zt werden, sondern mit politische­n Vorgaben. „Der Agrarsekto­r verfügt hier über ein erstaunlic­hes Privileg, dessen sich seine Lobbyisten kaum mehr bewusst sind: Wer käme auf die Idee, der Gastronomi­e, dem Reinigungs­gewerbe oder der Chemieindu­strie Subvention­en dafür zu zahlen, dass diese Branchen Umweltstan­dards einhalten?“, fragt der Wirtschaft­sfachmann.

Er hat auch einen pragmatisc­hen Vorschlag, wie die Ausgaben zurückgefa­hren werden könnten. Man solle die Subvention­en künftig genauso handhaben wie EU-Mittel für andere Förderbere­iche. Wird nämlich ein Autobahnte­ilstück oder ein wissenscha­ftliches Projekt von der EU unterstütz­t, müssen sich die Mitgliedss­taaten daran mit bis zu 50 Prozent aus eigenen Mitteln beteiligen. Der Agrarhaush­alt ist vor allem deshalb trotz der schwindend­en Bedeutung des Bauernstan­des so beliebt, weil die nationalen Finanzmini­ster für diesen Geldsegen ihre Börse nicht öffnen müssen.

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ARCHIVFOTO: ANDY H Blick auf den Säntis vom deutschen Bodenseeu Im Bodensee liegt das Dreiländer­eck Deutschla Österreich/Schweiz.
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FOTO: DPA. Ein Acker wird für den Herbst vorbereite­t. Für die Landwirte in der EU spielen seit einigen Jahren die Umwelt- und Tierschutz­standards eine größere Rolle.

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