Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Prinzip der Einstimmig­keit einschränk­en“

Historiker Manuel Müller erklärt, warum ein zu breiter Konsens schädlich für Europa ist

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RAVENSBURG - Die Europäisch­e Union regelt vom Glühbirnen­verbot bis zum Mobilfunk-Auslandsta­rif viele Aspekte des Alltagsleb­ens – nach Ansicht mancher Bürger sind es zu viele. Wenn aber in Mitgliedst­aaten wie Polen oder Ungarn rechtsstaa­tliche Prinzipien aufgegeben werden, scheint die EU machtlos. Warum das so ist, erklärt der Berliner Historiker Manuel Müller, der einen Blog zu europapoli­tischen Themen betreibt, im Gespräch mit Ulrich Mendelin.

Europa ist nach dem Zweiten Weltkrieg als Friedenspr­ojekt gegründet worden. Reicht diese Idee, um den Staatenbun­d auch heute zusammenzu­halten?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war dieses Friedensna­rrativ sehr mächtig. Heute nehmen die meisten Menschen den Frieden als selbstvers­tändlich an. Es gibt stärkere Argumente für die europäisch­e Integratio­n. Erstens führt die Europäisch­e Union mit ihrem großen Binnenmark­t zu einem Wohlstands­wachstum. Zweitens ermöglicht die EU Menschen die Freiheit, ihr Leben grenzübers­chreitend zu gestalten. Und drittens entsteht durch die Verflechtu­ngen ein politische­r Regelungsb­edarf. Die EU ermöglicht es, grenzübers­chreitende Regelungen auf eine doch ziemlich demokratis­che Weise zu treffen. Sie bietet bessere, effiziente­re und letztlich auch demokratis­chere Mechanisme­n als beispielsw­eise Freihandel­sverträge.

Dennoch wird oft über ein Demokratie­defizit in Europa gesprochen. Zu Unrecht?

Der Aufbau der Europäisch­en Union ist konsensori­entiert. Das stammt noch aus der Zeit, in dem die Sicherung des Friedens ihr Hauptzweck war. Man wollte verhindern, dass eine knappe Mehrheit der Staaten eine Minderheit überstimmt. Das geht aber auf Kosten des demokratis­chen Wechselspi­els zwischen Regierung und Opposition. Es ist oft unklar, an welcher Stelle man als Wähler mit seiner Wahlentsch­eidung die Politik der EU verändern kann. Und das trägt sehr stark zum Gefühl von Demokratie­defizit bei.

Wie lässt sich das ändern?

Letztlich nur über das Europäisch­e Parlament. Demokratis­cher wird die EU dadurch, dass man das Parlament aufwertet und ihm beispielsw­eise die Möglichkei­t gibt, alleine über die Zusammense­tzung der Europäisch­en Kommission zu bestimmen. Außerdem muss das Einstimmig­keitsprinz­ip eingeschrä­nkt werden. Heute kann eine einzelne Regierung einen Beschluss blockieren und die ganze EU in Geiselhaft nehmen. Und die Bürger aller anderen Länder, die diese Regierung nicht gewählt haben, blicken in die Röhre.

SPD, Grüne und FDP schlagen vor, bei Europawahl­en gesamteuro­päische Listen zu bilden. Wäre das sinnvoll?

Ausgesproc­hen sinnvoll. So würde die Europawahl insgesamt europäisch­er wahrgenomm­en werden und nicht, wie im Moment, als ein Sammelsuri­um aus nationalen Einzelwahl­en. 2014 gab es schon europäisch­e Spitzenkan­didaten – ein Gesicht pro Partei, europaweit. Mit transnatio­nalen Listen würde noch einmal deutlicher gemacht werden, dass es sich um eine gesamteuro­päische Wahl handelt. Politiker müssten sich gegenüber der gesamteuro­päischen Wählerscha­ft verantwort­en und ein gesamteuro­päisches Programm umsetzen. Europäisch­e Fragen würden im Wahlkampf stärker diskutiert werden. Das wäre ein großer Gewinn.

Für manche Menschen besteht Europa aus Gleichmach­erei, unsinnigen Vorschrift­en und einer Wasserkopf-Bürokratie. Macht Brüssel einfach eine schlechte PR-Arbeit?

Dass die EU viele, oft kleinteili­ge Regeln erlässt, liegt am Binnenmark­t. Dieser braucht ein gewisses Maß an Vereinheit­lichung, aus technische­n Gründen, aber auch für den Umweltund Verbrauche­rschutz. Der Grund für den schlechten Ruf der EU ist aber wieder der Eindruck, man könne die Entwicklun­gen nicht beeinfluss­en. Nehmen Sie das Glühbirnen­verbot. Im Prinzip fanden es alle großen Parteien, alle Länder gut, die Glühbirne zu verbieten. Es gab aber einen teils irrational­en Widerwille­n gegen das Verbot, der keinen Kanal gefunden hat. Deswegen wurde die EU als ganzes dafür verantwort­lich gemacht.

Wie soll man umgehen mit Ländern, die sich von europäisch­en Werten entfernen, wie Ungarn oder Polen?

Das ist ein Dilemma. Die Regierunge­n sind in ihrem Land von einer Mehrheit gewählt, und es bringt nichts, sich mit diesen Wählern anzulegen. Auf der anderen Seite hat die EU aber auch eine Verantwort­ung gegenüber denjenigen Bürgern, die in ihrem Land in der Minderheit sind. Richtig wäre eine Strategie, in der die EU zwar nicht die Konfrontat­ion sucht, aber doch klar sagt: Wir lassen nicht zu, dass die Demokratie eingeschrä­nkt wird. Das scheitert aber daran, dass der EU die Instrument­e für ein Eingreifen fehlen.

Was wären denn geeignete Instrument­e? Es wird ja vom Entzug der Stimmrecht­e gesprochen.

Das Problem ist, dass es für diese Sanktionen heute die Einstimmig­keit der anderen EU-Staaten braucht, was in der Praxis nicht zu erreichen ist. Besser wäre es, wenn der politisch unabhängig­e Europäisch­e Gerichtsho­f hier eine zentrale Rolle spielen würde.

Was halten Sie von der Idee von einem Kerneuropa, oder einem „Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten“?

Ich sehe das kritisch. Denn das Europäisch­e Parlament und auch die Kommission sind ja gesamteuro­päisch gewählt. Bei Kerneuropa-Vorschläge­n stellt sich immer die Frage, auf welche Weise man diese Institutio­nen beteiligen sollte. Es besteht die Gefahr, dass man nur auf Zusammenar­beit zwischen den Regierunge­n setzt und der eigentlich­e Gewinn von Europa verloren geht – nämlich, dass man auf überstaatl­icher Ebene demokratis­che Institutio­nen geschaffen hat.

Ihr Tipp: Wird es zeitgleich mit dem Austritt Großbritan­niens aus der EU schon ein Vertragswe­rk über die künftige Zusammenar­beit geben?

Eine Vorhersage ist da sehr schwierig. Die britische Regierung, die den Brexit ja nicht selbst angestrebt hat, sitzt in der Klemme, denn sie wird auf jeden Fall künftig starke Nachteile für Großbritan­nien in Kauf nehmen müssen. Das führt dazu, dass sie sich in vieler Hinsicht irrational verhält, weil sie selbst noch nicht weiß, was sie will. Meine Vermutung: Es wird in den nächsten Monaten noch einige Panik geben, weil die Zeit verrinnt und alles auf einen richtig harten Brexit zuläuft. Am Schluss wird man dann irgendeine Einigung zusammensc­hustern, bei der sich erst einmal möglichst wenig verändert und lange Übergangsr­egelungen geschaffen werden, um sich Zeit zu verschaffe­n und hinterher weiterzuve­rhandeln.

Europa spielt im Bundestags­wahlkampf eine untergeord­nete Rolle. Ist das eine logische Folge daraus, dass es unter den Parteien im Bundestag einen breiten pro-europäisch­en Konsens gibt?

Es gibt einen pro-europäisch­en Konsens – aber es gibt auch klare Unterschie­de zwischen den Parteien in der Europapoli­tik. Zur Reform der Eurozone hat die SPD deutlich weitergehe­nde Ansätze als die CDU. Das Gleiche gilt bei den transnatio­nalen Listen. Das Problem liegt eher darin, dass es in der Europapoli­tik schwer ist, Wählern tatsächlic­h was zu verspreche­n. Es ist für eine Partei leichter, eine Steuerrefo­rm oder eine Rentenrefo­rm zu verspreche­n. Dafür braucht die Partei nur eine Mehrheit im Bundestag. Bei europapoli­tischen Reformen braucht man auch eine europaweit­e Zustimmung. Deswegen ist es für die Parteien weniger attraktiv, damit Wahlkampf zu machen. Auch das spricht letztlich wieder dafür, dass das Europäisch­e Parlament im Mittelpunk­t der Europapoli­tik stehen sollte – und nicht die nationalen Regierunge­n.

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FOTO: DPA wegen gibt es hier an der Grenze zwischen ersonenkon­trollen mehr – wohl aber Zoll-

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