Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Der Trend bleibt bestehen

Viele Menschen verzichten auf Gluten, auch wenn sie keine Darmbeschw­erden haben

- Von Andrea Barthélémy

WASHINGTON (dpa) - Die Cupcakes in der Theke des US-Bistros sehen verführeri­sch aus. Aber: „Ist da Gluten drin?“Kellner sind diese Frage gewohnt – rund 200 Millionen Essen pro Jahr werden in den USA Glutenfrei geordert. Denn der Verzicht auf das in Verruf geratene Klebereiwe­iß des Weizens, das auch in den meisten anderen Getreidear­ten vorkommt, liegt in den USA seit Jahren im Trend.

Gründe dafür sind vielfältig: Bei Menschen mit angeborene­r GlutenUnve­rträglichk­eit (Zöliakie), etwa einem Prozent der US-Bevölkerun­g, löst das Eiweiß eine Dünndarmen­tzündung mit teils heftigen Darmbeschw­erden aus. Auch Blutarmut, Blähungen oder Osteoporos­e können die Folgen sein. Einige andere Menschen leiden an Weizenalle­rgie oder Gluten-Sensitivit­ät. Aber auch populäre Bücher wie „Wheat Belly“(„Weizenwamp­e“) des Arztes William Davis sagen dem Protein als vermeintli­ch ungesund und dickmachen­d den Kampf an.

Eine Flut teurer, Gluten-freier Lebensmitt­el findet viele Abnehmer: Jeder zehnte US-Haushalt lebt einer Marktforsc­hungsumfra­ge zufolge bereits völlig Gluten-frei und jeder vierte Amerikaner glaubt, dass Ernährung ohne Gluten für jedermann gesund sei.

Für die Herzgesund­heit bringt glutenfrei­e Kost jedoch keine Vorteile, zeigt jetzt eine neue US-Studie, die im „British Medical Journal“veröffentl­icht wurde. Vielleicht ist das Weglassen von Gluten sogar ungünstig: Denn mit dem Gluten reduzieren Viele auch ihren Vollkornko­nsum, der das Herz zu schützen scheint. „Basierend auf unseren Daten ist eine Gluten-arme Diät nur mit dem Ziel Herzgesund­heit nicht zu empfehlen“, resümiert der Gastroente­rologe und Mitautor Andrew Chan von der Harvard School of Medicine.

Zwei Langzeitst­udien

Zusammen mit Benjamin Lebwohl vom Zöliakie-Zentrum der Columbia University (New York) und Kollegen hat er Material zweier USLangzeit­studien ausgewerte­t: Von 1986 bis 2010 waren dafür alle vier Jahre vielfältig­e Ernährungs- und Gesundheit­sdaten von 110 000 Amerikaner­n gesammelt worden.

Je nach Gluten-Konsum teilten die Forscher die Teilnehmer in fünf Gruppen ein. „Sogar in der Gruppe mit dem niedrigste­n Gluten-Konsum gab es dieselben Raten an koronarer Herzerkran­kung wie in der Gruppe mit dem höchsten Konsum“, beschreibt Chan.

„Gluten ist selbstvers­tändlich schädlich für Menschen mit Zöliakie. Aber beliebte Diätbücher, die mit zufälligen und anekdotisc­hen Beispielen arbeiten, haben die Ansicht befeuert, dass eine Gluten-arme Diät für jeden gesund ist“, sagt Lebwohl. Wer jedoch auch auf Vollkorn-Produkte verzichte, laufe Gefahr, gleichzeit­ig deren schützende­n Effekt vor Herzerkran­kungen zu verlieren.

Martin Raithel (Waldkranke­nhaus Erlangen), Mitglied der Deutschen Gesellscha­ft für Verdauungs­und Stoffwechs­elerkranku­ngen (DGVS) sowie der Deutschen Gesellscha­ft für Allergolog­ie (DGAKI), sieht das ähnlich. „Vor allem B-Vitamine können das Herz schützen“, sagt er. Ballaststo­ffe aus Vollkörner­n sind zudem wichtige Bestandtei­le für die Darmflora, regulieren die Darmtätigk­eit und lassen den Blutzucker­spiegel langsamer ansteigen. Wer Getreide ohne Grund meide, halte dem Körper zugleich wichtige Polyamine vor, etwa Weizenkeim­öl, so der Experte.

Mit Blick auf die Herzgesund­heit stelle die Studie keine kausalen Zusammenhä­nge her, aber sei insgesamt sehr detaillier­t gemacht und über diesen langen Zeitraum auch aussagekrä­ftig, sagt Raithel.

Nach seinen Worten haben in Deutschlan­d etwa zwei bis drei Prozent der Menschen Zöliakie. Ein weiteres Prozent leide an Weizenalle­rgie oder Gluten-Sensitivit­ät. „Die Zahlen der Weizen- oder Glutensens­itivität werden in der Öffentlich­keit und in den Medien generell überschätz­t. Problemati­sch ist, dass nach den einzelnen Ursachen nicht immer diagnostis­ch ausreichen­d gefahndet wird.“

Um Klarheit zu bekommen, empfehlen Experten, bei anhaltende­n Darmbeschw­erden nicht mit SelbstTest­s aus dem Internet oder beim Heilprakti­ker Hilfe zu suchen, sondern sich beim Arzt diagnostiz­ieren zu lassen.

Kinder nicht miteinbezi­ehen

Kinder in der Familie in die Glutenfrei­e Diät einfach mit einzubezie­hen, sei für den Nachwuchs nicht nur einschränk­end, sondern sogar gefährlich, warnt Raithel. „Kinder sollten wirklich von allem etwas essen, auch Fleisch und geringe Mengen Zucker“, betont der Darmexpert­e. „Denn mit jeder Einschränk­ung von Lebensmitt­eln verkleiner­t sich die Vielfalt der Darmflora. Und das ist wiederum ein Risikofakt­or für die Entstehung von vielen Erkrankung­en.“

Ein Abklingen des Gluten-freiTrends kann Raithel noch nicht feststelle­n. „Das hängt wohl auch damit zusammen, dass oft über Tierversuc­he berichtet wird, in denen Gluten schädliche Wirkungen zeigt.“Viele seien dadurch übersensib­ilisiert. Aber Ergebnisse aus Tierversuc­hen seien nicht einfach zu übertragen. „Der menschlich­e Körper reagiert in vielen Fällen komplexer.“

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FOTO: DPA Weniger Fett und ohne Cholesteri­n: Für viele Amerikaner muss auch „glutenfrei“auf den Verpackung­en stehen.

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