Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Gier frisst Hirn
Regelmäßig erreichen uns Meldungen von Gaffern bei Unfällen, denen Handyfotos wichtiger sind als das Leben der Verunglückten. Diese Form der Sensationsgier erscheint schockierend, sie ist seit jeher jedoch tief im Menschen verwurzelt, gewissermaßen ein Teil seiner DNA. Dennoch gehört dieses Verhalten hart bestraft.
Gladiatorenkämpfe im antiken Rom, Hexenverbrennungen im Mittelalter, der Pranger bis ins 19. Jahrhundert und heute Unfälle – die Schaulust gab es in allen Kulturen und zu allen Zeiten, längst ist sie gut erforscht. In uns allen steckt ein Gaffer, heißt es, eine Gier nach Sensation, die aus sicherer Entfernung wie eine ganz eigene Erlebniswelt funktioniert. Die Person setzt sich ins Verhältnis mit dem Opfer, fantasiert, bewusst oder unbewusst, was wäre, wenn sie das Unglück gepackt hätte. Nervenkitzel, Neugier und der emotionale Kick im Anblick des Ungewöhnlichen gehen hier eine Verbindung ein. Schlimmstenfalls gefolgt von Empathielosigkeit, wenn etwa, wie einst geschehen, Gaffer ein Picknick veranstalten, um Freiwilligen bei einer Flutkatastrophe zuzusehen.
Nicht umsonst lautet jedoch ein Sprichwort: Gier frisst Hirn. Diese Verhaltensweisen sind moralisch verwerflich und damit zu sanktionieren. Die Menschen haben sich mit gutem Grund eine Moral gegeben, das unterscheidet sie vom wilden Tier, das schafft Ordnung und ermöglicht Zusammenleben. Mag es auch künftig und vielleicht dauerhaft Gaffer und Neugierige geben, es bleibt die Aufgabe der Zivilisation, immer wieder korrigierend einzugreifen, und sei es durch Haftstrafen, wenn Leben gefährdet werden.
Überdies darf die Gesellschaft nicht müde werden, die Menschen aufzuklären, sie zu einem zivilisierten Handeln aufzufordern. Dabei raten Experten auch, die eigene Angst zu überwinden und, statt zu gaffen, dem Opfer zu helfen. Vorsichtig Körperkontakt zu suchen, es vor Zuschauern abzuschirmen, mit ihm zu sprechen und zuzuhören. Daraus ergibt sich vielleicht eine andere Erlebniswelt, eine, die tiefer und länger wirkt als ein billiger Schnappschuss.