Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Wenn der eigene Vater verschwindet
Alzheimer-Demenz ist unheilbar – Experten warnen vor Unterversorgung in der Pflege
WALDENBURG/FREIBURG - Annegret Frenzel war 15 Jahre alt, als sie merkte, dass etwas anders war. Ihre Mutter war im Urlaub, hatte Vater und Tochter Bargeld dagelassen. Schon am ersten Tag war alles weg. „Ich fragte meinen Vater, was er damit gemacht hat, aber er wusste es nicht.“Als die Mutter zurück war, sprachen sie über das Ereignis und stellten fest: In letzter Zeit häuften sich merkwürdige Kleinigkeiten. „Zum Glück war meine Mutter sehr rigoros“, sagt Frenzel. „Sie hat ihn von Arzt zu Arzt geschleppt, bis wir eine Diagnose bekamen: Alzheimer im Frühstadium.“Das ist inzwischen elf Jahre her.
Doppelt so viele Erkrankte bis 2050
Der Vater von Annegret Frenzel ist einer von 1,6 Millionen Demenzkranken in Deutschland. Zwei Drittel von ihnen leiden laut der Alzheimer Gesellschaft an der häufigsten Form Alzheimer. Demenz bezeichnet dabei das Symptom, Alzheimer die Ursache. Sie ist eine hirnorganische Krankheit. Charakteristisch sind Störungen von Gedächtnis, Orientierung und Sprache. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, daran zu erkranken – bis 2050 rechnen Experten mit bis zu drei Millionen Betroffenen.
Das stellt auch die Krankenhäuser vor Herausforderungen. Schon jetzt verzeichnen die Kliniken immer mehr Patienten mit diesem Krankheitsbild. Ihre Zahl hat sich binnen 15 Jahren fast verdoppelt. 2015 wurden 19 049 Patienten wegen der Erkrankung stationär behandelt – 2001 waren es erst 10 306 Fälle, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilt. Dies entspricht einem Anstieg von 85 Prozent. Angesichts dieser Zahlen warnen Experten vor einer Unterversorgung. Trotz umfassender Pflegereformen fehle nach wie vor ausreichend qualifiziertes Pflegepersonal, warnt die Alzheimer Gesellschaft. Der Deutsche Evangelische Krankenhausverband appelliert an die Politik, die Kliniken beim Ausbau demenzsensibler Strukturen und bei der Ausbildung des Personals zu unterstützen.
Denn eine Alzheimererkrankung geht auch mit massiven Persönlichkeitsveränderungen einher. Frenzel fiel es besonders schwer, anzusehen, wie der Vater, den sie liebte und kannte, immer mehr verschwand. „Er war einfach nicht mehr derselbe Mensch“, erzählt sie. „Früher war er extrem auf andere bedacht, tat alles für mich und nahm sich selbst zurück.“Plötzlich habe er sich gar nicht mehr für die Probleme seiner Tochter interessiert. Er war geistesabwesend, zugleich nervös und fühlte sich schnell überfordert oder angegriffen.
Menschen mit Demenz sind selten aufgrund von Veränderungen im Gehirn aggressiv, sondern meist bedingt durch äußere Faktoren wie zu laute Geräusche oder Situationen, die ihnen Angst machen. Verändert sich das Umfeld, verbessert sich meist auch das Verhalten. „Alzheimerkranke werden nur dann aggressiv, wenn sie sich respektlos behandelt fühlen“, erklärt Joachim Bauer, Neurowissenschaftler der Universität Freiburg.
Vor drei Jahren gab es einen Schlüsselmoment für Familie Frenzel, in dem klar wurde: Es geht nicht mehr. „Mein Vater wollte Wasser aufkochen und hat die falsche Herdplatte angemacht, auf der noch ein Topf mit Essensresten stand. Doch dann fing es an zu brennen, und er saß seelenruhig in der völlig verrauchten Küche und hat Zeitung gelesen.“
Es brauchte Kraft für diese Entscheidung, doch Mutter und Tochter erkannten, dass es keinen anderen Weg mehr gab: „Heute ist mein Vater in einem Pflegeheim ganz in unserer Nähe.“Die festen Strukturen dort geben ihm ein Gefühl von Sicherheit. Frenzel besucht ihn oft. „Dennoch können wir auch mal was essen gehen oder in den Urlaub fahren in dem Wissen: Er ist in guten Händen.“