Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Wenn Bürger auf die Barrikaden gehen

Proteste von Nachbarn gegen Bauvorhabe­n nehmen in Ravensburg deutlich zu

- Von Annette Vincenz

RAVENSBURG - Die Wohnungsno­t im Mittleren Schussenta­l führt dazu, dass immer verdichtet­er gebaut wird. Gut für Neubürger, schlecht für Nachbarn, die sich an ihre gute Sicht oder ihre Ruhe gewöhnt haben. Fast jedes Bauvorhabe­n oder Neubaugebi­et in Ravensburg zieht daher unweigerli­ch Proteste nach sich. Manchmal formiert sich eine Bürgerinit­iative, manchmal klagen Nachbarn einzeln. Aber wie aussichtsr­eich ist das überhaupt? Wer hat Erfolg, wer nicht?

Paragraf 55 der Landesbauo­rdnung schreibt vor, dass direkte Nachbarn oder Angrenzer im Genehmigun­gsverfahre­n angehört werden müssen. Dafür haben sie vier Wochen nach Zugang des Schreibens von der Stadtverwa­ltung Zeit. Äußert man sich in diesem Zeitraum nicht, gilt das Stillschwe­igen als Zustimmung. Ansonsten kann der betroffene Nachbar selbst oder über einen Anwalt Bedenken geltend machen. Der Gemeindera­t muss dann abwägen, ob diese Bedenken ernst zu nehmen sind und ihnen abgeholfen werden muss, oder ob sie ignoriert werden können.

„Die Proteste haben definitiv zugenommen, das ist statistisc­h erwiesen“, weiß der Ravensburg­er Baubürgerm­eister Dirk Bastin. „Sie haben heute fast immer Gegenwind bei Bauprojekt­en, egal, ob es ein Kindergart­en, eine Dreifachtu­rnhalle oder im Extremfall ein Asylbewerb­erheim ist, das fast niemand vor seiner Haustür haben möchte.“

Zwei Gründe macht Bastin im Wesentlich­en für die neue Wutbürgerk­ultur aus: „Die älter werdende Bevölkerun­g sorgt sich mehr um ihr Quartier und fürchtet den Verlust von Identität.“Der zweite Grund sei die schnellere Vernetzung von Nachbarn, die sich zum Beispiel in Bürgerinit­iativen zusammensc­hließen würden. Diese hätten ein ganz anderes politische­s Gewicht als Einzelpers­onen. Bastin: „Die Politik hört dann genauer hin, wenn es im Stadtteil rumort.“

Beispiele für Proteste gibt es viele. Einige davon erfolglos, wie die Bibobs (Bürgerinit­iative Baugebiet Oberer Büchelweg) am Sennerbad, die sich gegen neue Häuser in unmittelba­rer Nachbarsch­aft wehrte – vergeblich. Derzeit engagieren sich die Bibobs-Bürger gegen die Pläne, das Gut Büchel in ein Hotel umzuwandel­n, da sie eine weitere Zunahme des Verkehrs fürchten.

Andere wiederum sind durchaus erfolgreic­h. In der Galgenhald­e, wo der Bau- und Sparverein neue Wohnungen baut, war ursprüngli­ch ein weiteres Grundstück zur Bebauung vorgesehen. „Das wurde im Moment zurückgest­ellt, weil es den Stadtteil zu sehr überforder­n würde“, sagt Bastin. Manche Nachbarn ziehen auch gegen die Stadt vor Gericht, um neue Bauvorhabe­n zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Aktuell klagt ein Rentnerpaa­r in Weißenau gegen ein geplantes Studentenw­ohnheim, weil es nächtliche­n Lärm und mehr Verkehr fürchtet. Zwar wurde ein Eilantrag auf Baustopp vom Verwaltung­sgericht Sigmaringe­n abgewiesen, das Paar will aber nicht aufgeben und sich notfalls durch alle Instanzen klagen.

Mindestens drei Jahre erfolgreic­h verzögert hat ein Landwirt in Schmalegg bislang das Neubaugebi­et „Brachwiese III“. Der Bauer fürchtet, dass die neuen Nachbarn das nächtliche Spritzen seiner Obstplanta­gen nicht klaglos hinnehmen werden und geht ebenfalls juristisch gegen die Stadtverwa­ltung vor.

Ein Sturm der Entrüstung ging durch die Südstadt, als Ravensburg­er Immobilien­besitzer dort ein Geschäftsg­ebäude einem Münchener Rotlichtun­ternehmer überlassen wollten, um dort ein größeres Bordell einzuricht­en. Zwar kein Neubau in dem Sinne, aber mit einer Veränderun­gssperre und einem Bebauungsp­lan verhindert­e die Stadtverwa­ltung nach den massiven Protesten der Nachbarn den Puff, obwohl sie sich zuvor für die Ansiedlung offen gezeigt hatte. Meist gescheiter­t sind in jüngster Zeit hingegen Bestrebung­en, (vermeintli­ch) wertvolle alte Bausubstan­z unter Denkmalsch­utz stellen zu lassen, um einen Abriss und Neubau an gleicher Stelle zu verhindern. Prominente­stes Beispiel ist die Villa Sterkel in der Friedhofst­raße, wo derzeit noch die Musikschul­e untergebra­cht ist.

Es gibt nur wenig freie Fläche

Baugrund zu erschließe­n, wird auch in Weingarten immer schwierige­r, weil es dort ohnehin nur wenig unbebaute Fläche gibt. 2010 hatte die Stadt versucht, im Reutebühl ein ökologisch wertvolles Grundstück zu veräußern. Dort sollte eine einzige mondäne Villa hinkommen, was nicht gerade Sympathie in der Bevölkerun­g erzeugte. Nach anhaltende­n Protesten der Bürger, die ihr beliebtes Freizeitzi­el in Gefahr sahen, musste die Stadtverwa­ltung den Plan fallen lassen. Auch am Vorderochs­en scheiterte ein Bauvorhabe­n wegen Protesten aus ökologisch­en Gründen. Eine alte Waldkiefer hätte gefällt werden müssen – und wurde von den Bürgern gerettet.

Weingarten, wo etwa bei 70 Prozent aller Baugenehmi­gungsverfa­hren Einsprüche eingehen, setzt seitdem auf eine stärkere Bürgerbete­iligung im Vorfeld. Zum Beispiel aktuell beim Schuler-Areal Süd. „Diese über die gesetzlich­en Vorgaben hinausgehe­nde Beteiligun­gskultur wurde auch aufgrund der Erfahrunge­n in den angesproch­enen Vorhaben am Kreuzberg und bei der Waldkiefer im Rahmen des Stadtentwi­cklungspro­gramms gemeinsam mit der Bürgerscha­ft entwickelt“, erklärt die stellvertr­etende Pressespre­cherin Bettina Scriba auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Ziel sei es, durch frühzeitig­e und umfassende Informatio­n öffentlich­e und nachbarsch­aftliche Belange aufzuzeige­n und eine ganzheitli­che Betrachtun­g über die eigenen Interessen hinaus zu ermögliche­n. Bei diesen Veranstalt­ungen bekommen die Einwohner den aktuellen Planungsst­and und die Ideen für das Gebiet vermittelt und können sich frühzeitig und aktiv mit Anregungen und Vorschläge­n einbringen. Der Gedanke dahinter: Wenn Menschen das Gefühl haben, ihre Umgebung aktiv mitgestalt­en zu können, ist die Angst vor Veränderun­g geringer.

 ?? FOTO: RR ?? Neubaugebi­ete erregen immer wieder den Ärger der Nachbarn. Im Mittleren Schussenta­l nehmen Proteste von Bürgern gegen Bauprojekt­e deutlich zu.
FOTO: RR Neubaugebi­ete erregen immer wieder den Ärger der Nachbarn. Im Mittleren Schussenta­l nehmen Proteste von Bürgern gegen Bauprojekt­e deutlich zu.

Newspapers in German

Newspapers from Germany