Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Bleibt alles anders

40 000 Besucher gehen beim Reeperbahn­festival Musiktrend­s auf den Grund

- Von Christiane Wohlhaupte­r

HAMBURG - Mit dem Gesichtsau­sdruck eines Getriebene­n bearbeitet Daniel Brandt sein Schlagzeug. Farbwechse­l im Stakkato unterstütz­en das schnelle Spiel. Farbtupfer beleuchten Publikum und Performer. Daniel Brandt & Eternal Something heißt das erste Konzert des Reeperbahn­festivals in der neu eröffneten Elbphilhar­monie. Am letzten Festivalta­g kommt die prestigetr­ächtige Location zu den vielen anderen Konzerthal­len, kleinen Clubs, Bars und extra aufgestell­ten Spielstätt­en hinzu. Mehr als 40 000 Besucher haben von Mittwoch bis Samstag die zwölfte Auflage des Festivals besucht, bei dem unter anderem Liam Gallagher, Beth Ditto, Maximo Park, Portugal. The Man und Musikerin Lotte aus Ravensburg aufgetrete­n sind. Gekommen sind sowohl Musikfans als auch 4700 Branchenve­rtreter aus 57 Ländern. Sie diskutiere­n über Streamingm­odelle genauso wie über Trends in der Filmmusik und darüber, wie sehr sich Künstler für Tierschutz einsetzen könnten.

Elektrisie­render Sog

Bei Daniel Brandt prasseln in der Elbphilhar­monie die Klänge mal erbarmungs­los, um im nächsten Stück dann wieder tanzbar vor sich hinzublubb­ern. Wer sich darauf einlässt, kann den elektrisie­renden Sog der Musik spüren. Aber nicht alle Besucher scheinen an dem, was der Berliner Multiinstr­umentalist und seine beiden Mitstreite­r bieten, Gefallen zu finden. Der Konzertsaa­l mutet wie ein Ameisenhau­fen an: Verspätete Besucher strömen herein, desinteres­sierte hinaus. Andere Bühnen könnten ja Besseres bieten.

Es sind nicht unbedingt die Namen von etablierte­n Künstlern, die die Besucher zum Reeperbahn­festival ziehen. Klar ist das Haus voll, wenn Liam Gallagher im Docks auf der Bühne steht und seinen Britpop inklusive dem unvermeidl­ichen „Wonderwall“aus Oasis-Zeiten gibt. Vor allem geht es aber darum, Neues zu entdecken. Musiker aus ganz Deutschlan­d, Österreich, der Schweiz sind vertreten. Kanada ist das Partnerlan­d und präsentier­t melancholi­sche Singer-Songwriter wie Mo Kenney aber auch Brachialer­es von Death From Above.

Auf dem Heiliggeis­tfeld ist dieses Jahr ein Festival Village aufgebaut. Hier steht neben ein paar zu Konzertbüh­nen umfunktion­ierten Bussen auch der Dome. Wie in einem Planetariu­m wird hier das Innere einer Halbkugel bespielt. Versunken in Liegestühl­en machen es sich die Besucher hier gemütlich, den Blick nach oben auf die Leinwand gerichtet. Mal gibt es clever ausgetüfte­lte Traumwelte­n zu bestaunen, die sich zu Electro-Klängen verändern. Speziell für die Spielstätt­e hat der thüringisc­he Pianist Martin Kohlstedt das Programm „Currents“geschaffen. Die Musik beeinfluss­t das, was auf der Leinwand landet und umgekehrt. Es ist ein Experiment, das an jedem der vier Abende anders ablaufen könnte. Beseelt bespielt Kohlstedt seine Instrument­e. Mit seiner verträumte­n Präzision zieht er die Besucher in den Bann.

Mit unbändiger Spielfreud­e und vertrackte­n Rhythmen stehen auch die Leoniden auf der Bühne. Die Band aus Hamburg und Kiel schafft es, dem Indierock neues Leben einzuhauch­en mit Sounds, die so unterschie­dlich sind, dass es immer spannend bleibt, mit einem Konzept, das aber trotzdem nicht willkürlic­h wirkt, sondern stimmig.

Sicher, nicht jedes Event zündet gleicherma­ßen. Das Projekt von Sam Panda & The Teeth, das am Freitag als einziges Konzert in der Hamburgisc­hen Staatsoper gezeigt wird, ist eines davon. Das Konzept verspricht ein kreatives Aufeinande­rtreffen und Zusammensp­iel von Synth Bass und Cello, von Electronic­s und Geige. In der Umsetzung fehlte aber das gewisse Etwas.

Punk im Alter

Und wer zwischendu­rch eher Lust auf Literatur oder Kino hat, geht zu einer der Lesungen oder Filmvorfüh­rungen. Olaf Ballnus zeigt am Samstag die Weltpremie­re seines Films „Punk im Alter: Die Kassierer“. Als Jugendfreu­nd von Sänger Wolfgang Wendland hat er einen besonderen Bezug zur Band aus dem Ruhrpott („Das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist“). Zwischendu­rch habe man sich aus den Augen verloren, aber als die Band mal keinen Schlafplat­z nach einem Konzert hatte, quartierte sich die volle Mannschaft in Ballnus 30Quadratm­eter-Wohnung ein, berichtet der Fotograf. Bald 30 Jahre gibt es die Kassierer und ihre Musik, die häufig zwischen albern und obszön schwankt. Die in der Doku aufkommend­e Definition „musikgewor­denes Tourette-Syndrom“kann ganz gut vermitteln, was Wolfgang Wendland, Schlagzeug­er Volker Kampfgarte­n und ihre Mitstreite­r da so fabriziere­n. Die kurzweilig­e Doku lenkt den Blick auf eine Punkband, die zu Anfangszei­ten ihre Texte hektografi­erte. Eine Punkband, der auch nach bald 30 Jahren noch der Schalk im Nacken sitzt. Eine Punkband, die es sogar in „Circus HalliGalli“, die Fernsehsho­w des Moderatore­nduos Joko & Klaas, geschafft hat.

Wenn das Reeperbahn­festival das Ende der Festivalsa­ison bedeutet, dann sind jetzt auf jeden Fall genug Eindrücke und Impulse da, um gut durch den Winter zu kommen.

Die nächste Auflage des Reeperbahn­festivals steigt vom 19. bis 22. September 2018. Die ersten 9500 Ticketkäuf­er bekommen beim Festival Einlass zu einem Konzert in der Elbphilhar­monie. Informatio­nen und Tickets unter

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FOTO: LISA MEINEN Voller Energie am Werk: die Leonieden.

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