Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Bis ein Zwang zum Konsum entsteht“
Thomas Greitzke, therapeutischer Leiter der Fachklinik Ringgenhof, erläutert den Unterschied zwischen Angewohnheit und Sucht
WILHELMSDORF - Macht das tägliche Glas Wein schon süchtig? Katharina Stohr hat mit Thomas Greitzke, therapeutischer Leiter der Fachklinik Ringgenhof in Wilhelmsdorf, über die Grenze zwischen Alltagsgewohnheit und Sucht sowie die unheilvolle Rolle von Angehörigen gesprochen.
Herr Greitzke, Sie behandeln in Ihrer Klinik jährlich etwa 550 Männer, die an allen möglichen Formen der Sucht erkrankt sind. Wo liegt die Grenze zwischen Alltagsgewohnheit und Suchterkrankung? Macht das tägliche Gläschen Wein schon süchtig?
Wir Menschen sind ja alle Gewohnheitstiere (lacht). Jeder von uns hat schon mal versucht, schlechte Angewohnheiten loszuwerden und hat dann gemerkt, wie schwierig das ist. Trotz starkem Willen: Auf einmal sprechen uns andere Dinge an und wir können es dann doch nicht lassen und greifen beispielsweise zur Zigarette. Wenn eine Gewohnheit allerdings so stark wird, dass sie unseren Lebensalltag bestimmt oder wenn ich von einer süchtig machenden Substanz wie Alkohol immer mehr zu mir nehmen muss, bis ich die Kontrolle darüber verliere und ein Zwang zum Konsum entsteht – spätestens dann spricht man von einer Suchterkrankung.
Der Alltag ist voll von verschiedensten Dingen, zu denen man Abhängigkeiten entwickeln kann: Alkohol, Drogen, Medikamente, Nikotin, Essen, Internet, soziale Medien, Fernsehen… Welcher Schritt aus der Abhängigkeit ist denn der erste?
Es fängt immer mit der Wahrnehmung an. Wieso komme ich nicht mehr vom Fernsehapparat weg oder wieso schaue ich mir Sachen an, die mich gar nicht interessieren? Steuere ich das Ganze noch oder bin ich schon die Geisel von bestimmten Verhaltensweisen oder Substanzen? An diesem Punkt könnte man überlegen: Ist da etwas nicht in Ordnung? Die meisten, die von Sucht betroffen sind, fragen sich das erst sehr viel später. Nämlich dann, wenn sie handfeste Probleme bekommen oder wenn sie von zwanghaftem Verhalten wie bei der Spielsucht völlig beherrscht sind. Erst wenn der Leidensdruck massiv groß ist, ziehen die Leute die Reißleine und holen sich Hilfe. Dann ist es aber schon sehr weit gekommen. Wir machen uns ewig etwas vor, verbleiben in Situationen, die uns schon längst schädigen und hören dennoch nicht auf damit.
Wo finden abhängige Menschen Hilfe?
Es kommt immer darauf an, um welche Probleme es tatsächlich geht. Ein Mensch, der deutlich zu viel Alkohol trinkt, sollte zu seinem Hausarzt gehen und sehr offen über sein Problem reden. Und sich dann beraten lassen. In Deutschland gibt es ein sehr gutes Suchthilfesystem, angefangen von Selbsthilfegruppen bis hin zu Suchtberatungsstellen mit professionellen Helfern. Und vielleicht ist dann der nächste Weg, sich professionell in einer Klinik helfen zu lassen.
Was können Angehörige von Suchtkranken tun?
Angehörige spielen – ohne dass sie es beabsichtigen – leider oft eine unheilvolle Rolle. Vielleicht besorgen sie dem Suchtkranken in falsch verstandener Hilfsbereitschaft das Suchtmittel oder dulden, dass er es nimmt. Zwar leiden sie schon unter dem Zustand, wagen es aber nicht, klare Konsequenzen auszusprechen. Wir sagen jedem hilfesuchenden Angehörigen, dass er den Leidensdruck erhöhen soll. Konkret heißt das: Den betroffenen Suchterkrankten nur noch unterstützen, wenn echte und ehrliche Bereitschaft zur Umkehr vorhanden ist. Diese Konsequenz zu zeigen, ist für Angehörige oft sehr schwer. Es gibt viele Beratungsstellen mit Angehörigengruppen. Da kommt sehr schnell sehr gute Hilfe.