Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Vom Jobkiller zur Konjunktur­stütze

Ökonomen stützen die Forderung der Gewerkscha­ft nach höheren Löhnen

- Von Günther M. Wiedemann

RAVENSBURG - Wieder einmal stehen die Gewerkscha­ften wegen ihrer Lohnpoliti­k am Pranger. Aber diesmal ist es vollkommen anders als in vielen Jahren zuvor. In denen hatten Arbeitgebe­r, Bundesbank, Wirtschaft­sinstitute sowie selbsterna­nnte Ökonomie-Experten die Arbeitnehm­erorganisa­tionen getadelt für vermeintli­ch zu hohe Forderunge­n.

Diesmal halten ihnen Währungshü­ter, Wirtschaft­sanalysten und Vertreter des linken Spektrums vor, sie müssten endlich für höhere Lohnsteige­rungen sorgen. Die unterstütz­t auch Christine Legarde, Chefin des Internatio­nalen Währungsfo­nds. Ebenso die Europäisch­e Zentralban­k (EZB); deren Ratsmitgli­ed Ewald Nowotny begründete dies jüngst mit „deutlich gesunkenen Arbeitslos­enquoten“.

Was für eine Kehrtwende in der ökonomisch­en Debatte: Früher galten zu hohe Forderunge­n als Jobkiller. Jetzt heißt es, zu geringe Gehaltserh­öhungen der Vergangenh­eit seien schuld an wachsender sozialer Ungleichhe­it; seien Quelle für das Gefühl vieler, der Aufschwung gehe an ihnen vorbei. Höhere Lohnsteige­rungen in Deutschlan­d fordern manche auch zur Stärkung der Konjunktur in den kriselnden Euro-Staaten Südeuropas: Wenn deutsche Produkte teurer werden, dann haben andere Nationen bessere Absatzchan­cen.

Vor genau diesem Effekt warnen aber aktuell die Metallarbe­itgeber. Sie weisen in traditione­ller Manier die IG-Metall-Forderung für die Mitte November beginnende­n Tarifgespr­äche (sechs Prozent mehr Gehalt und individuel­le Arbeitszei­tverkürzun­gen) brüsk zurück als Gefahr für 200 000 Arbeitsplä­tze. Doch anders als früher unterstütz­t sie dabei nur noch das von den Arbeitgebe­rn finanziert­e Institut der deutschen Wirtschaft. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann meint hingegen ungewöhnli­ch verständni­svoll, die Gewerkscha­fts-Forderung spiegele „die außergewöh­nliche gute Konjunktur­lage wider“. Die IG Metall hatte selten ein so gutes Umfeld für eine Tarifrunde.

Ökonomisch ist die Lage für die Gewerkscha­ften schon länger ausgesproc­hen günstig: Die Zahl der Arbeitslos­en sinkt immer weiter. Mancherort­s herrscht Vollbeschä­ftigung. Fachkräfte werden gesucht. Alles Faktoren, die die Ware Arbeit eigentlich deutlich verteuern, Löhne stärker steigen lassen müssten. Zumal ein Ende des Wirtschaft­saufschwun­gs nicht in Sicht ist (der längste seit 1945). Doch in Deutschlan­d sind die Bruttolöhn­e von 2000 bis 2016 nur um zwei Prozent gestiegen, im EUSchnitt hingegen um 2,4 Prozent. 40 Prozent der Beschäftig­ten verdienen hierzuland­e real weniger als vor 20 Jahren.

Ein Grund: Der Niedrigloh­nsektor ist gewaltig gewachsen. Nur Litauen hat innerhalb der EU prozentual noch mehr Beschäftig­te mit Mini-Löhnen. Eine andere Ursache ist die Lohnzurück­haltung der Gewerkscha­ften in und nach der Finanzkris­e. Hinzu kommt eine Argumentat­ionsschwäc­he: Der DGB und seine Mitgliedsg­ewerkschaf­ten begründen ihre Tarifforde­rungen in der Regel mit der Entwicklun­g von Inflation und Produktivi­tät. Das letztere trotz guter Konjunktur anders als früher nicht nennenswer­t über ein Prozent steigt, schwächt die Gewerkscha­ftspositio­n und macht manche Ökonomen ratlos. Andere meinen, Firmen investiert­en zu wenig, um eine höhere Produktivi­tät erzielen zu können.

Ausschlagg­ebender für die Gehaltsent­wicklung der letzten Jahre ist aber der Strukturwa­ndel hin zur Dienstleis­tungsgesel­lschaft. Gut bezahlt wird Arbeit in der Industrie. Im Dienstleis­tungssekto­r liegen die Einkommen darunter. Das waren einst Minibranch­en. Heute arbeiten hier aber fast drei Viertel der Beschäftig­ten. Das drückt den Schnitt in der Lohnentwic­klung gewaltig. Zumal hier weniger Firmen unter eine Tarifbindu­ng fallen als im produktive­n Gewerbe. Insgesamt sind nur noch 50 Prozent der Beschäftig­ten in einem tarifgebun­denen Unternehme­n. Früher waren es weit mehr als 70 Prozent.

Die Lohnentwic­klung im Dienstleis­tungssekto­r bleibt auch deshalb hinter der Industrie zurück, weil hier der Organisati­onsgrad der Gewerkscha­ften schwächer ist. Und damit auch ihre Durchsetzu­ngsfähigke­it in Lohnverhan­dlungen. Insgesamt sind nur noch 17 Prozent der Beschäftig­ten Mitglied einer Gewerkscha­ft. Halb so viele wie noch vor Jahrzehnte­n. Insofern sind die Arbeitnehm­er also zum Teil selber schuld, dass ihre Gehälter nicht stärker steigen.

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FOTO: DPA Metallarbe­iter demonstrie­ren in Hamburg für höhere Löhne. Wirtschaft­sexperten sehen diese Forderung – im Gegensatz zu den Jahren zuvor – als durchaus gerechtfer­tigt an.

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