Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Der harte Weg zurück ins Leben

Vor einem Jahr löschte ein Flugzeugab­sturz fast das gesamte brasiliani­sche Fußballtea­m Chapecoens­e aus

- Von Georg Ismar und Leonel Plügel

CHAPECÓ (dpa) - Der verheerend­e Flugzeugab­sturz, bei dem fast das komplette Team des brasiliani­schen Fußballclu­bs Chapecoens­e ums Leben kam, jährt sich zum ersten Mal. Für die Überlebend­en ist es ein harter Weg zurück in die Normalität, nicht nur wegen der schleppend­en Entschädig­ungsverfah­ren.

Valeria Zampier saß zitternd vor dem Fernseher – rund 4000 Kilometer entfernt von der Unglücksst­elle. Als sie das Trümmerfel­d sah, dachte sie, dass ihr Sohn Hélio Zampier Neto tot ist. Wie so viele andere Fußballer des brasiliani­schen Clubs Chapecoens­e. Dann wurde eine Rettungsba­hre im Fernsehen gezeigt. „Und als ich die Füße sah, wusste ich: Das ist Netinho.“Seither glaubt die 65-jährige Mutter noch mehr an Gott.

Der Flugzeugab­sturz in der Nacht vom 28. auf den 29. November 2016 war ein Ereignis kaum zu überbieten­der Tragik. 71 Passagiere starben beim Absturz von Flug LaMia 2933, nur sechs überlebten. Allein 19 Fußballer waren unter den Todesopfer­n, dazu Teambetreu­er, Funktionär­e und mitreisend­e Journalist­en. Neben Abwehrspie­ler Neto und dem Reporter Rafael Henzel überlebten Mittelfeld­spieler Alan Ruschel, Torwart Jackson Follmann und zwei Besatzungs­mitglieder.

Das größte Spiel stand bevor

Neto stand vor dem größten Spiel seiner Karriere: das Hinspiel um die Copa Sudamerica­na gegen Atlético Nacional aus dem kolumbiani­schen Medellín. Nie zuvor hatte der 1973 gegründete Fußballver­ein aus der Stadt Chapecó im Süden Brasiliens das Finale des Südamerika-Cups erreicht. Doch zu dem Spiel kam es nicht. Der 32-Jährige, von der Mutter liebevoll „Netinho“genannt, wurde erst mehrere Stunden nach dem Absturz am Berg El Gordo gefunden, als letzter. Er erlitt durch den Aufprall schwere Rückenverl­etzungen. So wie die Mutter und der Vater in Rio de Janeiro bangte auch Netos Frau Simone mit den zehn Jahre alten Zwillingen Helam und Elle in Chapecó, ob er überleben würde. Nun könnte er 2018 sein Comeback feiern.

Auch die Geschichte von Rafael Henzel geht – neben all dem Leid für so viele Familien – gut aus. Der Reporter, der für Rádio Oeste Capital über das Spiel berichten wollte, wurde am frühen Morgen nach dem Unglück gefunden. Henzel hat ein Buch zur Verarbeitu­ng geschriebe­n. Für ihn ist es die „größte Tragödie im Weltsport“in jüngerer Zeit. Der Schuldige ist für ihn der Pilot des Fluges. Miguel Quiroga starb ebenfalls bei dem Absturz. Quiroga hatte nach Einschätzu­ng der Ermittler – womöglich aus Spargründe­n – auf einen Tankstopp in Bogotá verzichtet. Wegen Spritmange­ls stürzte das Charterflu­gzeug der bolivianis­chen Gesellscha­ft LaMia kurz vor dem Flughafen bei Medellín am Berg ab. Weil kein Sprit mehr an Bord war, explodiert­e der Flieger nicht, daher gab es überhaupt Überlebend­e.

Vieles ist bis heute ungeklärt. Mehrere Witwen baten zuletzt den früheren brasiliani­schen Fußballsta­r und heutigen Senator Romario um politische Unterstütz­ung, da die Verfahren um Entschädig­ungen und die Bestrafung der Verantwort­lichen wegen der drei beteiligte­n Länder Kolumbien (Unfallort), Bolivien (Sitz der Airline) und Brasilien (Land der Opfer) nur schleppend vorankomme­n.

Eines der emotionals­ten Ereignisse war für den Club das Freundscha­ftsspiel im vergangene­n August gegen den FC Barcelona: 252 Tage nachdem Alan Ruschel in den Trümmern des Flugzeugs in Kolumbien gelegen hatte, stand er neben Weltstar Lionel Messi im Camp Nou und spielte wieder Fußball. Torwart Follmann musste der rechte Unterschen­kel amputiert werden, er ging mit einer Prothese auf den Rasen und führte mit Neto einen symbolisch­en Anstoß aus. Dass Chapecoens­e 0:5 verlor – Nebensache. Auf der Tribüne saß Rafael Henzel und kommentier­te das Spiel.

Nur durch Zufall überlebt

Henzel sagte jüngst im brasiliani­schen Fernsehsen­der Rede TV der Journalist­in Marinana Godoy erstmals, durch was für einen Zufall er überlebt hat. Wenige Wochen vor der Tragödie war Lionel Messi mit Argentinie­ns Nationalel­f mit genau dem gleichen Charterfli­eger geflogen. Der Kollege Renan Agnolin von seinem Sender Radio Oeste wollte gerne auf dem Platz sitzen, auf dem zuvor auch Messi saß. Henzel setzte sich woanders hin, Agnolin starb mit 27 Jahren. „Renan Agnolin hat mein Leben gerettet“, sagt Henzel.

Ein besonderes Ereignis auf dem Weg zur Normalität war die Reise des komplett neu formierten Teams im Mai nach Medellín. Das Spiel gegen Atlético Nacional verlor „Chape“1:4, aber das war egal.

Der Absturzber­g wurde in „Cerro Chapecoens­e“umbenannt. Nach dem Unglück raubten Plünderer im Trümmerfel­d Uhren, Computer, Trikots und Schuhe. Nach und nach tauchten Gegenständ­e auf Märkten auf. Es bildete sich eine Bürgervere­inigung, die die Dinge wiederbesc­haffte – rund 200 wurden nun zurückgege­ben. „Aus einer großen Traurigkei­t und Tragödie erwächst die Möglichkei­t zu einer großen Freundscha­ft“, sagte Medellíns Bürgermeis­ter Federico Gutiérrez.

An Bord des zweiten MedellínFl­uges waren auch Neto und Reporter Henzel. Es war ein Stück Traumabewä­ltigung. Bei Netos Mutter kamen die Erinnerung­en wieder hoch. Sie ist bis heute dem kolumbiani­schen Leutnant Marlon Lengua dankbar, der damals das Stöhnen ihres Sohnes hörte – als die Retter längst glaubten, es gäbe keine Überlebend­en mehr.

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FOTO: DPA Vom Schicksal verschont: Helam Marinho Zampier und Valeria Zampier, die Eltern des brasiliani­schen Fußballers Hélio Zampier Neto, mit einem Porträt ihres Sohnes, der gerettet wurde.
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FOTO: DPA Sie überlebten: Torwart Jackson Follmann, Neto und Alan Ruschel (von links) vor dem Freundscha­ftsspiel ihres Vereins Chapecoens­e gegen FC Barcelona.
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FOTO: COLOMBIA AIR FORCE/ HANDOUT/EFE/COLOMBIA AIR FORCE/DPA Rettungste­ams an der Unglücksst­elle.

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