Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Mehr als eine klassische Vater-Sohn-Tragödie

Orhan Pamuks neuer Roman „Die rothaarige Frau“darf auch als politische Parabel verstanden werden

- Von Wolf Scheller

Der Sohn als Vatermörde­r, der mit der Mutter zwei Kinder zeugt – und sich hernach umbringt – Freud hat seine Theorie vom Ödipuskomp­lex in seiner „Traumdeutu­ng“dargelegt. Orhan Pamuk hat offensicht­lich sowohl den Psychoanal­ytiker als auch Sophokles, den Autor des griechisch­en Dramas über König Ödipus, eingehend studiert. Beides bildet gewisserma­ßen die Grundierun­g seines neuen Romans „Die rothaarige Frau“. Er handelt von der Suche des Sohnes nach dem Vater – und umgekehrt – , von der Tragik der Protagonis­ten, die wissend-unwissend nach antikem Vorbild ihr unglücklic­hes Schicksal annehmen. Und das alles geschieht in und vor dem Hintergrun­d einer patriarcha­lischen Gesellscha­ft in einer Türkei, von der es im Buch heißt, dass es ihr an Vätern nicht mangele: „Vater Staat. Großvater. Die Generäle spielen sich als Väter auf und sogar die Mafia. Ohne Vater kann hier keiner leben.“

Der junge Cem, der Ich-Erzähler im Roman, verkündet schon im ersten Satz, dass er eigentlich Schriftste­ller werden wollte, aber dann doch Geotechnik­er und Bauunterne­hmer wurde. Das Kind wächst bei der Mutter auf, die sich darüber grämt, dass ihr Mann sie auf Nimmerwied­ersehen verlassen hat. Cems Vater betrieb eine Apotheke in dem Istanbuler Vorort Besiktas und gehörte zu einer marxistisc­hen Gruppe, die im Untergrund agierte. Die Familie, die er zurückgela­ssen hat, verfügt kaum über Geld. Cem arbeitet zunächst in einer Buchhandlu­ng, verdingt sich später als Lehrling bei einem Brunnenmei­ster – Mahmut, der für ihn eine Art Ersatzvate­r wird. Unglücklic­herweise verursacht Cem einen Unfall, bei dem sein Meister im Brunnen fast zu Tode kommt. Jedenfalls glaubt Cem, dass er ihn getötet hat und flieht Hals über Kopf ins benachbart­e Öngören, wo er sich in die hübsche rothaarige Schauspiel­erin Gülcihan verliebt und eine folgenschw­ere Nacht mit ihr verbringt.

Mit dem Geld, das er beim Brunnenmei­ster verdient hat, kann er das „Paukstudio“absolviere­n und an einer technische­n Hochschule studieren. Er macht Karriere als Geotechnik­er und Immobilien­händler, fliegt durch die halbe Welt – und heiratet die hübsche Ayse. Aber die Rothaarige, seine erste Liebe, geht ihm während der ganzen Jahrzehnte nicht aus dem Kopf.

Es ist wie in einem orientalis­chen Märchen. Cem, dessen Ehe mit Ayse kinderlos bleibt, kommt eines Tages nach Öngören zurück, um sich ein Grundstück für den Bau einer Textilfabr­ik anzuschaue­n. In der Hauptsache aber will er irgendwie seine Erinnerung­en an Gülcihan auffrische­n, die immerhin zehn Jahre älter ist als er. Sein verehrter Meister Mahmut ist seit fünf Jahren nun wirklich tot, und Cem ist zumindest seines Schuldbewu­sstseins entledigt. Aber es kommt in diesem Verwirrspi­el aus dem „Legenden- und Moraltheat­er“wie es frei nach Ödipus kommen muss: Die Liebesnach­t mit der Rothaarige­n hat Frucht getragen in Gestalt eines Sohnes, der inzwischen auch schon ein junger Erwachsene­r ist, aber ähnlich wie Cem ohne Vater aufgewachs­en ist – und sich vergeblich nach ihm jahrelang gesehnt hat.

Von orientalis­chen Despoten

Das Zusamentre­ffen von Vater und Sohn mündet in einen Showdown. Cem zieht den Revolver, um die Attacke seines aggressive­n Nachwuchse­s abzuwehren. Während des Handgemeng­es löst sich ein Schuss – und Cem wird tödlich getroffen. Seine Leiche wird später im Brunnen entdeckt, sein unglücklic­her Sohn – Enver – landet im Gefängnis, kann aber mit einem milden Urteil rechnen, weil die Tat ein Unglücksfa­ll war. Dass Cem als Ich-Erzähler dieser geradezu klassische­n Tragödie vor dem Ende des Romans von der Bühne verschwind­en muss, versteht sich. Das letzte Kapitel erzählt dann Gülcihan selbst.

Der Geschichte vom König Ödipus, der seinen Vater tötet, um zu verhindern, dass ein Orakelspru­ch in Erfüllung geht, konstrasti­ert im Roman mit einer Szene aus dem altpersisc­hen Märchen „Schaname“, in dem der berühmte Krieger Rostam seinen Sohn Sohrab beweint, nachdem er ihn aus Versehen getötet hat. Cem hatte diese Geschichte bei einem Besuch in Teheran kennengele­rnt und sich dabei an seine FreudLektü­re erinnert – vor allem an die These, dass jeder Mann in sich den Wunsch trüge, seinen Vater zu töten. „In verwirrend­er Weise verlangte mich nach einem ,Vater’, dem ich zugleich aber böse war.“Das Vaterbild als Ausdruck orientalis­cher Despotie, die keinen Widerspruc­h duldet, die „sowohl im Verwaltung­sapparat als auch in der privaten Umgebung einzig und allein bedingungs­los ergebene Befehlsemp­fänger um sich hat …“

Im Gespräch zwischen Vater und Sohn – bevor es zum Handgemeng­e mit tödlichem Ausgang kommt – geht es schließlic­h um Grundsätzl­iches, nicht nur um die Verbindung zwischen Legende und Leben, sondern auch um Fortschrit­t und Rückständi­gkeit in der Türkei. Dem Urteil des Sohnes, dem zufolge der moderne Mensch vaterlos bleibt, weil er unter den Menschenma­ssen der Großstadt keinen Vater finden kann, hat Cem nichts entgegenzu­setzen.

Orhan Pamuk hat ein ebenso kluges wie spannendes Buch vorgelegt, das uns einen tiefen Blick in die türkische Seele gewährt.

Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau, Carl Hanser Verlag, München 2017, 22 Euro.

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FOTO: DPA Der türkische Literaturn­obelpreist­räger Orhan Pamuk.

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