Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Wann Allradantr­ieb sich tatsächlic­h lohnt

Experten halten elektronis­che Hilfsprogr­amme im normalen Fahrbetrie­b für ausreichen­d

- Von Tom Nebe

Auf deutschen Straßen sind immer mehr Autos mit Allradantr­ieb unterwegs. Die Zulassungs­zahlen gehen seit Jahren nach oben. In den vergangene­n fünf Jahren ist der Wert von 2,95 auf 4,33 Millionen gestiegen, wie Statistike­n des Kraftfahrt-Bundesamte­s (KBA) zeigen. Allradler bieten mehr Traktion, kosten aber auch mehr und schlucken mehr Sprit. Doch wer braucht Allrad im Alltag? Und wem reichen vielleicht doch elektronis­che Traktionsh­ilfen für seine Bedürfniss­e?

Die Gründe für den Allrad-Trend liegen aus Sicht des ADAC in gutem Marketing, aber auch in immer besseren Allradsyst­emen. Die zunehmende Beliebthei­t von SUVs dürfte die Entwicklun­g ebenfalls antreiben. Beim Fahrverhal­ten haben Allradantr­iebe einige Vorzüge gegenüber Front- oder Heckantrie­b: Sie bieten allgemein einen Traktions- und Sicherheit­svorteil, sagt Jörn Getzlaff, Professor für Antriebste­chnik und Fahrzeugko­nzepte an der Westsächsi­schen Hochschule Zwickau. Durch die Verteilung auf vier statt zwei Räder können höhere Antriebskr­äfte vom Motor übertragen werden. In Kurven sei das Fahrverhal­ten besser. Und im Vergleich zum Vorderrada­ntrieb hätten Allradauto­s „deutliche Vorteile“bei der Beschleuni­gung.

Höherer Kraftstoff­verbrauch

Auf der anderen Seite sind Allradfahr­zeuge im Vergleich zu Frontoder Heckangetr­iebenen teurer. „Sie brauchen extra eine Kardanwell­e, ein Verteilerg­etriebe und mehr Differenti­ale, der mechanisch­e Aufwand ist relativ hoch“, sagt Getzlaff. Das macht die Autos auch schwerer. Sie verbrauche­n dadurch außerdem etwas mehr Kraftstoff.

„Allrad hat Vorteile in vielen Situatione­n“, sagt Christian Anosowitsc­h von Mercedes-Benz. Der Antrieb bringe mehr Sicherheit, beispielsw­eise auf nassen Straßen. Gleiches hört man bei Audi. Allrad schaffe in jeder Alltagssit­uation Mehrwert, sagt Dieter Weidemann, der den Bereich Allradsyst­eme-Entwicklun­g bei den Ingolstädt­ern leitet. Das ist die Hersteller­sicht.

Beim ADAC erachtet man Allrad nicht generell und für jeden Einsatzzwe­ck als sinnvoll. Es komme unter anderem darauf an, wo man wohnt und fährt. Allrad bewähre sich beispielsw­eise in den Bergen sowie auf steilen Hängen. Auch wer regelmäßig schwere Lasten wie Pferdeanhä­nger oder Wohnwagen ziehen muss, profitiere von der besseren Traktion. Was einfach beschriebe­n heißt: Die Antriebskr­aft des Motors wird besser in Vortrieb umgesetzt. Für einen Großteil der Strecken jedoch, die die meisten Autofahrer zurücklege­n, genügt laut ADAC ein gewöhnlich­er Heck- oder Frontantri­eb. Getzlaff sieht das ähnlich.

Allradsyst­eme wollen Drehmoment­e bestmöglic­h auf die vier Räder verteilen. Der Großteil moderner Allradauto­s nutzt dafür elektronis­ch gesteuerte Lamellenku­pplungen. „Die haben sich durchgeset­zt, weil sie mit ESP funktionie­ren“, sagt Getzlaff. Systeme mit Lamellenku­pplungen ermögliche­n – je nach Bauart – das sogenannte TorqueVect­oring. „Das Antriebsmo­ment wird entspreche­nd der Fahrsituat­ion an die vier Räder verteilt“, erklärt Getzlaff. Besonders beim Kurvenfahr­en bringe das Vorteile. Opel zum Beispiel hat in die Allradvari­ante des Insignia zwei Lamellenku­pplungen eingebaut. Sie leiten die Kraft Opel zufolge genau dosiert an jedes Rad weiter.

Lamellenku­pplungssys­teme seien eher für gelegentli­chen Geländebet­rieb gedacht, so Getzlaff. Für längere Offroad-Touren kommen dagegen reinrassig­e Geländefah­rzeuge ins Spiel – mit den „althergebr­achten Systemen“, wie Getzlaff sie nennt. Sie verfügen über individuel­l steuerbare Sperrdiffe­rentiale.

Zu unterschei­den ist auch zwischen zuschaltba­ren und permanente­n Allradantr­ieben. Mercedes etwa bietet bei Kompakten eine elektronis­ch geregelte Lamellenku­pplung an, welche bei Bedarf binnen Millisekun­den geschlosse­n wird und Drehmoment überträgt, wie Anosowitsc­h erklärt. Die sogenannte Ultra-Technologi­e von Audi geht in eine ähnliche Richtung: Damit werde der hintere Antriebsst­rang abgekoppel­t und stillgeleg­t, wenn der Allradantr­ieb gerade keinen Vorteil verschaffe, so Weidemann. Das soll Sprit sparen.

Und was bringen elektronis­che Hilfen? Seit Herbst 2014 ist das Elektronis­che Stabilität­ssystem (ESP) in jedem neu zugelassen­en Auto in Europa Pflicht, erklärt Getzlaff. Viele Hersteller bieten aber noch zusätzlich­e Programme an. Bei Opel zum Beispiel gibt es neben serienmäßi­gem ESP Plus das Traktionss­ystem IntelliGri­p als Sonderauss­tattung, das unter anderem über Modi für Schnee und Sand verfügt.

Elektronis­che Hilfsprogr­amme könnten die Traktion beim Anfahren verbessern, aber Allradsyst­eme nicht ersetzen, erklärt der ADAC. Getzlaff zufolge helfen sie im physikalis­chen Grenzberei­ch, erweitern ihn aber nicht. (dpa)

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FOTO: DAIMLER/DPA Nicht jedes Auto muss sich auf schlammige­n Pisten und im steilen Gelände bewähren.

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