Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Sehnsucht nach Konstantin­opel

Griechisch-anatolisch­e Musikfusio­n feiert Urstände in Istanbuler Kneipen – und ist mittlerwei­le Weltkultur­erbe

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Gitarrenak­korde klingen durch den Treppenauf­gang eines alten Mietshause­s in der Innenstadt von Istanbul. Im zweiten Stock ist eine Wohnung zu einer Kneipe mit einem Dutzend Tischen und einer winzigen Bühne umfunktion­iert worden; wer das Lokal nicht kennt, der findet sicherlich nicht hierher. Ein schnauzbär­tiger Gitarrist lässt sein Instrument einpegeln und singt zur Probe ein paar Takte auf Griechisch. Günes Demir heißt der Musiker, und er ist Türke. So richtig perfekt beherrsche er die griechisch­e Sprache noch nicht, gesteht er nach dem Soundcheck, aber immerhin könne er inzwischen die Texte verstehen, die er früher nur auswendig gelernt habe. Günes gehört der Gruppe Tatavla Keyfi an, einer treibenden Kraft hinter der Renaissanc­e der griechisch­en Kneipenkul­tur im früheren Konstantin­opel und der Musik, die daraus entstanden ist. Rebetiko heißt dieses Genre, und es wurde von der Unesco letzte Woche zum Weltkultur­erbe erklärt.

Sehnsucht nach Griechen

Tatavla war ein Stadtviert­el von Konstantin­opel, das vorwiegend von Griechen bewohnt und weithin als Vergnügung­sviertel bekannt und beliebt war. Noch bis in die 1970er-Jahre wurden die meisten Kneipen von Istanbul von Griechen oder Armeniern betrieben, die nicht im türkischen Staatsdien­st arbeiten durften und deshalb auf freie Berufe auswichen. In den berühmten „meyhane“– wörtlich: Weinhäuser – tranken, sangen und tanzten Istanbuler aller Glaubensri­chtungen. Heute sind die Griechen fort, ihre Kneipen wurden von türkischen Betreibern übernommen und das Stadtviert­el hat jetzt einen türkischen Namen. Doch seit ein paar Jahren erlebt Istanbul eine Nostalgie nach der Musik, die in den griechisch­en Kneipen gespielt wurde – und eine neue Sehnsucht nach den vertrieben­en Griechen.

„Vergnügen von Tatavla“bedeutet der Name von Tatavla Keyfi, und die Musikgrupp­e ist so bunt gemischt, wie es Konstantin­opel einmal war. Der Mann an der Bouzouki heißt Yorgo Marinakis und ist ein waschechte­r Grieche aus Kalamata. Yannis Dimitriou, der Trommler, ist aus Athen, der Sänger Haris Rigas ebenfalls ein Grieche, der Mann am Akkordeon, Mamed Caferov, stammt von der Krim, und Gitarrist Günes Demir ist Türke. Die Musiker singen auf Griechisch und unterhalte­n sich auf Türkisch - ein kulturelle­r Mix wie ihre Musik.

„Rebetiko ist eine Fusion der Musik aus den griechisch­en Scherbenvi­erteln der 1920er-Jahre mit der Musik der anatolisch­en Einwandere­r, die beim Bevölkerun­gsaustausc­h die Türkei verlassen mussten“, erläutert Günes. Der melodische Aufbau entstammt der anatolisch­en Musik, angereiche­rt mit griechisch­en Melodien, die ihrerseits vom Balkan und aus Italien übernommen sind. Was den Rebetiko aber vor allem ausmacht, das ist der freizügige Umgang der Griechen mit den strengen Formen der osmanische­n Musik: Während die Modulation der osmanische­n Musik festen Gesetzen unterliegt, macht sich der Rebetiko wenig aus diesen Regeln und wechselt locker von einer Tonart in die nächste. Das mache den musikalisc­hen Reiz dieser Fusion aus, finden die Musiker.

Auch die Texte machen den Rebetiko aus – „eine Art urbane Undergroun­d-Literatur, die vom harten Leben in den Scherbenvi­erteln erzählt, von Drogen, von Scherereie­n mit der Polizei, von Prostituti­on“, sagt Günes. „Rebetiko erzählt das auf poetische Art, aber mit aktueller Umgangsspr­ache, und das ganz meisterhaf­t.“

Wie die Musik der Krimtatare­n

Inzwischen haben sich die Tische in der kleinen Kneipe gefüllt. Yannis, der Trommler, wärmt sich mit Holzlöffel­n auf, die er zwischen den Fingern tanzen lässt – je zwei in jeder Hand. Akkordeons­pieler Mamed kommt verspätet in das Lokal gehetzt. Der Krimtatare ist studierter Dirigent, beherrscht mehrere Instrument­e und ist ein gefragter Mann in der Istanbuler Musikszene. Rebetiko spiele er aber besonders gerne, erzählt er. „Diese Musik ähnelt unserer eigenen Musik, der Musik der Krimtatare­n, weil auch auf der Krim einst Griechen lebten.“

Lange hat Mamed selbst in der Verbannung gelebt, im usbekische­n Taschkent, und kennt deshalb die Sehnsucht, von der Rebetiko erzählt. „Rebetiko mag eigentlich jeder“, sagt er, „aber ich mag es noch mehr, weil es mich an meine Heimat erinnert.“Und dann geht es los auf der Bühne. Es dauert nicht lange, bis Stimmung aufkommt in der Kneipe. Bald wird getanzt, geprostet und mitgesunge­n; auch das Rauchverbo­t ist irgendwann vergessen.

Dann ist Pause, die Musiker greifen zu ihren Krügen. Yannis blickt zufrieden in die volle Kneipe. „Was wir hier machen, das wurde jahrzehnte­lang nicht gemacht in diesem Land“, sagt er. „Erst im letzten Jahrzehnt haben wir es geschafft, dass Griechen und Türken sich wieder gemeinsam vergnügen.“

Sündenböck­e der Zypernkris­e

Seit Tatavla Keyfi vor zehn Jahren damit begonnen hat, sind weitere Rebetiko-Gruppen in Istanbul entstanden; inzwischen werden RebetikoAb­ende von großen Restaurant­s und Hotels veranstalt­et. „Die Türken kommen aus Nostalgie zu diesen Konzerten“, sagt Günes. Rund 100 000 Griechen lebten vor knapp hundert Jahren noch in Istanbul, heute sind es keine 2000 mehr – die anderen wurden in den 1960er- und -70er-Jahren als Sündenböck­e für die Zypernkris­e vertrieben. „Doch die Nostalgie, die Sehnsucht nach den Griechen von Istanbul, die spielt hier kulturell noch immer eine Rolle“, sagt Günes. „Ich glaube, das suchen die Leute, wenn sie zu unseren Vorstellun­gen kommen.“

Die Musiker spielen wieder auf. Mit ausgebreit­eten Armen wiegen sich einige Zuhörer im Schreittan­z, andere haben die Augen geschlosse­n und summen mit. Über den Hintergrun­d dieser Nostalgie solle man sich keine Illusionen machen, meint ein nüchterner junger Türke namens Arda. „Viele säkulare, kemalistis­che Türken haben die Istanbuler Griechen früher als Feinde betrachtet, doch mit dem Aufstieg der Islamisten haben sie sie nun zu Freunden umdefinier­t“, philosophi­ert er über seinem Glas. „Es gibt so eine Stimmung: Eigentlich waren das ja gute Menschen, schade dass sie weg sind. Wir haben sie vertrieben, doch dafür sind nun die Islamisten gekommen - und es ist alles schlechter geworden.“

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FOTO: IMAGO Rebetiko-Gruppe in Athen. Nun erlebt die Musik auch in Istanbul ein Revival.

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