Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Leben im Ausnahmezu­stand

Osteuropa-Historiker Karl Schlögel liefert eine Gesellscha­ftsgeschic­hte der Sowjetunio­n

- Von Reinhold Mann

Dieses Buch ist eher durch Zufall ins Jubiläumsj­ahr der Russischen Revolution geraten. Sie ist der Startpunkt in das Zeitalter, das Karl Schlögel erkundet: die Epoche der Sowjetunio­n (1922-1991). Schlögel, Osteuropa-Historiker zuerst in Konstanz, dann in Frankfurt an der Oder, hat die letzten drei Jahrzehnte der Sowjetunio­n noch miterlebt. Das Buch handelt nur von Orten und Gegenständ­en, erklärt er eingangs, die er selbst gesehen hat. Es ist eine Gesellscha­ftsgeschic­hte der Sowjetzeit.

Dieser Ansatz führt zu einem Stil, der eher erzähleris­ch als wissenscha­ftlich ist. Schlögel ist sich dessen bewusst, er erinnert an Heinrich Manns „Ein Zeitalter wird besichtigt“. Sein Blick ist an Walter Benjamin geschult: Es geht ums Symptomati­sche, nicht ums Systematis­che. Die freie Darstellun­g, die nicht der Rolltreppe der Chronologi­e folgt, ist für einen Autor ein Kunststück. Und für Leser ein Geschenk.

Und zwar ein reiches. Das deutet das neun Seiten umfassende Inhaltsver­zeichnis an. In den Blick geraten nicht nur Großprojek­te wie Flussregul­ierungen, Eisenbahn-Magistrale­n und Fabrikstäd­te, die Choreograf­ie der Macht mit ihren Paraden und Aufmärsche­n, die Formatieru­ng der Gesellscha­ft durch Zuckerbrot (Plattenbau und Gorki-Park) und Peitsche (Geheimdien­st und Straflager). Schlögel interessie­rt sich für eine „Galerie des Privaten“: für die Rückzugsor­te der Datschen und Kolonien, für Warteschla­ngen und Warenangeb­ot, für Stalins Kochbuch und den Klassenkam­pf des Parfüms. Und für die Moskauer Küche als Treffpunkt für die Dissidente­nbewegung in den 1960er-Jahren. Er zeigt viel Sinn für jene Nestwärme, die sich bei den Generation­en ausbildete, die auf die Revolution folgten und die das Sowjetsyst­em als Gegebenhei­t hinnehmen mussten.

Lenins Ratlosigke­it

Wo Schlögel der Chronologi­e folgt, wie bei seiner Skizze der Revolution von 1917, ist er dennoch unkonventi­onell: Er präsentier­t das Weltereign­is als Lokalgesch­ehen am Stadtplan von St. Petersburg. Lenin wird vom Kopf auf die Füße gestellt. Dessen traditione­lle Darstellun­g ist fixiert auf einen Menschen, der den Weg zeigt, mit notorisch ausgestrec­ktem Zeigefinge­r. Schlögels Porträt des Gründers der Sowjetunio­n endet mit Lenins Eingeständ­nis von Ratlosigke­it.

Blick für Details

Walter Benjamin, der Ideengeber für das Konzept des Buches, war auch ein früher Besucher Moskaus. Wer wie er Eindrücke sammelt, erhebt nicht den Anspruch, ein Imperium darzustell­en, er realisiert umgekehrt die Beschränkt­heit des eigenen Erfahrungs­horizonts. Benjamin kam 1926 nach Moskau, eine optimistis­che Gestimmthe­it prägte seine Wahrnehmun­g – und relativier­t sie. Schlögel zitiert ihn in seinem wunderbare­n, zunächst etwas abseitig erscheinen­den Kapitel über Glocken. In seinem Tagebuch berichtet Benjamin über die Ruhe in der vom „Glockengel­äute befreiten“sowjetisch­en Großstadt.

Schlögel tut das Gegenteil. Er inszeniert sprachlich die verschwund­ene Klangwolke des alten Russlands. Zwar gehörten Glocken zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts noch überall zum Alltag der Großstädte in Europa, aber die Glocken Russlands waren ein außergewöh­nlich differenzi­ertes Kommunikat­ionssystem, nicht nur für religiöse Botschafte­n oder Geburt und Tod. Sie waren ein Alarmsyste­m für Gefahren unterschie­dlichster Art. Sergej Rachmanino­w, der im vorrevolut­ionären Russland aufgewachs­en ist und dem nachrevolu­tionären den Rücken gekehrt hat, griff in seinen späten Kompositio­nen die Glockenklä­nge auf. Er rief die Erinnerung­en der Exilrussen wach, deren Nostalgie westlichen Konzertbes­uchern ein Rätsel blieb.

Ein Hauch von Nostalgie

Ein nostalgisc­her Sound fällt auch manchmal an diesem Buch auf, vor allem zu Beginn und am Ende, wenn der Zusammenbr­uch thematisie­rt wird. Den Einstieg in sein großes Porträt der Sowjetgese­llschaft wählt Schlögel über deren Rand: mit der Straßensze­ne eines Trödelmark­ts vor den Toren Moskaus. Er wertet die eigenen Erfahrunge­n mit einer Bazar-Beschreibu­ng der Schriftste­llerin Swetlana Alexijewit­sch von 2013 auf. „Ich erkannte mein Moskau nicht wieder. Auf dem Asphalt saß ein alter Mann auf Ziegelstei­nen und spielte Akkordeon. Die Brust voller Orden. Er sang Lieder aus dem Krieg. Vertraute, geliebte Lieder. Ich wollte zu ihm gehen, doch er war schon von Ausländern umringt, zum Fotografie­ren!“

Diese Passage, die Schlögel zitiert, ist ebenfalls nostalgisc­h gestimmt. Nun ist Swetlana Alexijewit­sch nicht für sentimenta­le Anhänglich­keiten an die Vergangenh­eit berühmt. Den Nobelpreis bekam sie 2015 für unverblümt kritische Bücher über die Katastroph­en der Sowjetgese­llschaft. Sie schrieb über Frauen in Kriegszeit­en, Afghanista­n, Tschernoby­l. Wer solche Bücher schreibt, nimmt ein Leben im Exil in Kauf.

Neben der offenen Gesellscha­ftskritik, so wäre Schlögels Panorama zu ergänzen, kennt die Literatur der Sowjetzeit auch die verdeckte Form: das Sprechen in Bildern. Ein klassische­s Beispiel dafür ist ein Buch, das jetzt in deutscher Übersetzun­g erschienen ist (siehe Kasten). Autor Reso Tscheischw­ili aus Georgien, dem Buchmesse-Gastland 2018, entfaltete eine Karikatur des Sowjetsyst­ems, die schon dessen Ende vorwegnahm: 20 Jahre vor dem Zerfall 1991.

Karl Schlögel: Das sowjetisch­e Jahrhunder­t, C.H. Beck 2017. 912 Seiten, 38 Euro.

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