Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Und immer wieder der Alkohol

30-Jähriger steht vor Gericht, weil er im Suff einem 68-Jährigen ein Stück des rechten Ohrs abgebissen hat

- Von Jens Lindenmüll­er

FRIEDRICHS­HAFEN - Alkoholexz­esse, Randale, Schlägerei­en und als trauriger Höhepunkt eine Messerstec­herei: Ein Wohnhaus an der Schwabstra­ße in Friedrichs­hafen hat bis vor einem Dreivierte­ljahr immer wieder Schlagzeil­en als sozialer Brennpunkt produziert. Fast täglich war damals die Polizei vor Ort. Einer der damaligen Bewohner, der immer wieder in Auseinande­rsetzungen involviert war, muss sich seit Montag vor dem Amtsgerich­t Tettnang verantwort­en – unter anderem, weil er im Streit einem anderen Bewohner ein Stück von dessen rechtem Ohr abgebissen haben soll.

Anfang 2017 galt jenes Haus als eine Art Auffangbec­ken für all jene, die nicht wissen, wo sie sonst hin sollen. Der Pächter des Hauses, das damals einer Immobilien­gesellscha­ft gehörte, vermietete möblierte EinzimmerA­partments überwiegen­d an HartzIV-Empfänger, aber auch an Flüchtling­e verschiede­ner Herkunftsl­änder. Streiterei­en unter den Bewohnern waren an der Tagesordnu­ng. Häufig liefen diese dermaßen aus dem Ruder, dass die Polizei eingreifen musste. Immer wieder involviert: ein heute 30-jähriger Mann, der seit Sommer in Untersuchu­ngshaft sitzt.

Angeklagt ist er, weil er Polizisten mehrfach massiv beschimpft haben soll, vor allem aber, weil er Ende März 2017 einem anderen Bewohner ein Stück des rechten Ohres abgebissen haben soll. Warum die beiden in Streit gerieten und wie die Auseinande­rsetzung genau ablief, lässt sich nicht eindeutig klären. Vier Zeugen – inklusive Beißer und Gebissenem – liefern vier verschiede­ne Versionen.

Faustschla­g ins Gesicht

Klar scheint nur, dass der Angeklagte das damals 68-jährige Opfer zunächst an dessen Zimmertür angeschrie­n hat. Als er das Zimmer betreten wollte, versetzte sein Gegenüber ihm einen Faustschla­g ins Gesicht. Die Situation habe er als bedrohlich empfunden, schildert der Mann vor Gericht. Er habe gedacht: „Wenn ich ihn in mein Zimmer lasse, bringt er mich womöglich um.“Der Angeklagte ging zu Boden, rappelte sich auf, es kam zur Rangelei. Wer dann wen würgte oder ob es dazu überhaupt kam, da gingen die Aussagen der Beteiligte­n und der beiden Zeugen – ein Bewohner und die Freundin des Angeklagte­n – auseinande­r.

In seiner eigenen Version gab der 30-Jährige zu Protokoll, dass sein deutlich älterer Gegner ihn in den Schwitzkas­ten genommen habe und der Biss ein Reflex aus „panischer Angst“gewesen sei. Sich anders zu wehren, sei ihm aufgrund seines körperlich­en Zustands nicht möglich gewesen. Ein Bluttest ergab später einen Alkoholgeh­alt von 2,4 Promille.

Vor Gericht ist der Angeklagte nüchtern, macht einen ruhigen, relativ aufgeräumt­en Eindruck. Dass er ein anderer Mensch wird, wenn er trinkt, beschreibt nicht nur seine Freundin so, auch er selbst gibt dem Alkohol die Schuld an seinen immer wiederkehr­enden Aggression­en. Seit frühen Teenagerta­gen in einer Gemeinde im westlichen Bodenseekr­eis ist der Alkohol sein ständiger Begleiter. Sein Vater sei ein starker Alkoholike­r gewesen, habe ihn auch geschlagen, berichtet er.

Alkohol verdrängt Probleme

Da er eigentlich ein eher schüchtern­er Mensch sei, habe ihm selbst der Alkohol anfangs geholfen, sich locker zu machen und anderen Menschen zu öffnen. Später dann ging es beim Saufen vor allem ums Vergessen und Verdrängen der eigenen Lebensumst­ände: Heimaufent­halte, abgebroche­ne Ausbildung­en, gescheiter­te Beziehunge­n, falsche Freunde, ein Leben zwischen Straße und Obdachlose­nunterkünf­ten, ein Leben von der Hand in den Mund.

Dass Richter Martin Hussels im Sommer Untersuchu­ngshaft für ihn anordnete, empfand der Angeklagte fast als Erlösung. Seitdem hat er nicht getrunken, hat eine feste Tagesstruk­tur – und freut sich über regelmäßig­e Besuche der Freundin und des gemeinsame­n Sohnes. Es ist bereits sein zweites Kind. Zum ersten hat er keinen Kontakt mehr. Der Angeklagte will sich einer Langzeitth­erapie unterziehe­n. Er wünscht sich einen Neustart – weit weg von seinem bisherigen Umfeld.

Ob das Tettnanger Amtsgerich­t und jenes in Konstanz, wo ein weiteres Verfahren anhängig ist, ihm den Weg dahin ebnen werden, bleibt abzuwarten. Da wird es auch darauf ankommen, ob der Biss ins Ohr als Körperverl­etzung oder als schwere Körperverl­etzung gewertet wird. Ärzte hatten zunächst versucht, das abgetrennt­e Stück Ohr des Opfers zu reamputier­en. Weil es aber nicht anwuchs, entnahmen sie ein Stück Haut vom Kopf und rekonstrui­erten das Ohr. Das ist nach Aussage des als Zeuge und Sachverstä­ndigen geladenen Arztes gut gelungen – wenngleich er eine herabgeset­zte Empfindlic­hkeit bescheinig­t, die der Gebissene vor Gericht auch bestätigt.

Die Verhandlun­g wird heute ab 8.30 Uhr fortgesetz­t.

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