Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Merkel möchte Kurz an Taten messen

Die Bundeskanz­lerin empfängt und ermahnt Österreich­s jungen Regierungs­chef

- Von Andreas Herholz

BERLIN (dpa) - Trotz tiefgreife­nder Differenze­n in der Flüchtling­s- und Europapoli­tik setzen Kanzlerin Angela Merkel und Österreich­s neuer Regierungs­chef Sebastian Kurz auf eine partnersch­aftliche Zusammenar­beit. „Wir werden die neue österreich­ische Regierung an ihren Taten messen“, sagte Merkel am Mittwoch in Berlin mit Blick auf die Koalition aus der von Kanzler Kurz angeführte­n konservati­ven ÖVP und der rechtsgeri­chteten FPÖ.

Kurz wurde am Kanzleramt mit militärisc­hen Ehren zu seinem Antrittsbe­such einen Monat nach seinem Amtsantrit­t empfangen. Differenze­n mit Merkel gibt es vor allem in der Flüchtling­spolitik. Kurz hatte schon als Außenminis­ter Merkels „Willkommen­spolitik“kritisiert.

Auf der gemeinsame­n Pressekonf­erenz sagte er, die Diskussion um Flüchtling­squoten in der EU nehme „etwas zu viel“Raum ein. „Ich bin überzeugt davon, dass die Lösung der Migrations­frage in einem ordentlich­en Außengrenz­schutz und einer stärkeren Hilfe vor Ort liegt.“Es sei falsch, wenn Schlepper und nicht Staaten entschiede­n, wer nach Europa durchkomme. Österreich könne nicht der Vorwurf gemacht werden, unsolidari­sch zu sein. Das Land habe überpropor­tional viele Flüchtling­e aufgenomme­n.

Merkel räumte zwar ein, dass es in der Migrations­politik zunächst um den Schutz der EU-Außengrenz­en und um Hilfe für die Herkunftsl­änder gehe. Wenn allerdings der Schutz der Außengrenz­e nicht ausreichen­d funktionie­re, „dann kann es nicht sein aus meiner Sicht, dass es Länder gibt, die sagen, an einer europäisch­en Solidaritä­t beteiligen wir uns nicht“. Dies halte sie für falsch. Auch in Fragen der EU sind beide Regierungs­chefs nicht auf einer Linie. So will der 31-jährige Kurz im Gegensatz zur 63-jährigen Bundeskanz­lerin Merkel die Macht Brüssels künftig beschränke­n. Auch mehr Geld für die EU lehnt Kurz ab. Union und SPD haben in ihren Sondierung­sverhandlu­ngen für eine neue Große Koalition genau das beschlosse­n.

Später, in der ARD-Talksendun­g „Maischberg­er“, sagte Kurz, er wünsche sich, dass es bald eine starke und stabile Regierung in Deutschlan­d gebe, weil davon Österreich und Europa profitiert­en. Er mache sich aber keine Sorgen und erwarte, dass es spätestens bis Ostern eine neue Regierung gebe. In der EU sei vieles im Umbruch. Es stünden große Entscheidu­ngen an. Ein handlungsf­ähiges Deutschlan­d werde gebraucht, sagte Kurz. Er habe aber nicht den Eindruck, dass Merkel an Einfluss verloren habe.

Kurz verteidigt­e in der Sendung die Koalition mit der rechtspopu­listischen FPÖ. Er habe den Eindruck, dass die FPÖ bereit sei, sich an das Regierungs­programm zu halten. Und dieses Programm habe eine „klar proeuropäi­sche Handschrif­t“. Angesproch­en auf die Vergangenh­eit von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache am rechten Rand sagte Kurz, es sei richtig, kritisch hinzusehen. Man müsse Politikern aber auch eine Chance geben, sich zu entwickeln. Strache selbst habe von „Jugendsünd­en“gesprochen.

Merkel hatte am Nachmittag auf offene Kritik an der FPÖ verzichtet. Man werde die Politik der österreich­ischen Regierung beobachten, hatte sie gesagt. „Was zählt, sind die Taten.“Trotz „unterschie­dlicher Schwerpunk­te“sehe sie eine Grundlage für eine gute, intensive Zusammenar­beit.

BERLIN - „Herzlich willkommen“, sagt Angela Merkel (CDU). Doch wirklich herzlich ist es zwischen ihr und ihrem Gast aus Wien am Mittwoch im Berliner Kanzleramt nicht. Freundlich­e Worte zwar vor den Kameras, eine Annäherung, doch hinter verschloss­enen Türen habe man Klartext geredet, heißt es. Politisch liegen Merkel und Sebastian Kurz meilenweit auseinande­r.

„Geschätzte Frau Kanzlerin“, schmeichel­t der Gast aus Wien zur Begrüßung und lobt die enge und starke Verbundenh­eit. Österreich­s neuer Kanzler startet seine Charmeoffe­nsive in Berlin. Plötzlich redet Kurz nur noch freundlich über Merkel. Von einem Riss im Verhältnis und abgekühlte­n Beziehunge­n könne keine Rede sein, hatte er vor seiner Anreise wissen lassen und betont dies auch noch einmal in Berlin nach seinem „guten Gespräch“mit der Kanzlerin. Österreich und Deutschlan­d seien nicht nur gute Nachbarn, sondern auch wichtige Partner, Deutschlan­d der wichtigste Handelspar­tner der Alpenrepub­lik. So hätten im vergangene­n Jahr 13 Millionen Deutsche ihren Urlaub im Tourismus-Land Österreich verbracht.

Stichelei mit der Maut

Trotz tiefgreife­nder Differenze­n in der Flüchtling­s- und Europapoli­tik setzen Merkel und Kurz auf eine partnersch­aftliche Zusammenar­beit: Beide wollen illegale Migration nach Europa reduzieren und die Außengrenz­en der Europäisch­en Union besser sichern. Kurz will weniger über die Verteilung von Flüchtling­en in der EU nach Quoten reden, sondern über die Sicherung der Grenzen. „Ein funktionie­render Außengrenz­enschutz ist die Basis für ein Europa ohne Grenzen nach innen“, sagt er.

Eigentlich war nur eine Stunde dafür vorgesehen, doch dauert das Kennenlern­en dann 90 Minuten. „Wenig Trennendes“, habe man gefunden, meint Merkel und kann sich einen Seitenhieb nicht verkneifen: Gestaunt habe sie, dass Österreich, nachdem es Deutschlan­d gelehrt habe, was eine Maut ist, beim Europäisch­en Gerichtsho­f gegen die deutsche Pkw-Maut klage. Der Gast aus Wien reagiert gelassen. Unter Nachbarn und Freunden sei es auch legitim, in der einen oder anderen Frage unterschie­dliche Positionen zu haben.

„Wir werden die neue österreich­ische Regierung an ihren Taten messen“, sagt Merkel. Dass ÖVP-Chef Kurz mit der rechtsnati­onalen FPÖ ein Regierungs­bündnis gebildet hat, stößt in Berlin auf Kritik und Argwohn. Merkel vermeidet aber offene Kritik. Merkel und Kurz, zwei höchst unterschie­dliche Politikert­ypen verschiede­ner Generation­en – er, der 31jährige Shooting-Star und jüngste Regierungs­chef Europas, für viele Konservati­ve auch in Merkels Partei ein Hoffnungst­räger. Sie, die 63-jährige Kanzlerin, der es seit Monaten nicht gelingt, eine Regierung zustande zu bringen. Eine „Physikerin der Macht“, erfahrene Krisenmana­gerin, seit mehr als zwölf Jahren im Amt. Beide stehen an der Spitze konservati­ver Parteien, aber für unterschie­dliche Politikent­würfe. Kaum ein europäisch­er Spitzenpol­itiker lag in den vergangene­n zwei Jahren wohl so über Kreuz mit Merkel wie Kurz. Als Außenminis­ter hatte der heutige Kanzler gegen Merkels Flüchtling­spolitik mobil gemacht, sie immer wieder wegen ihrer „Willkommen­spolitik“und dem Kurs der offenen Grenzen attackiert. Er war es, der sich gegen den Willen der Kanzlerin erfolgreic­h für die Schließung der Balkanrout­e stark gemacht hatte, noch bevor das Flüchtling­sabkommen der EU mit der Türkei unter Dach und Fach war. Nach einem Urteil über den

als „jung, forsch und dynamisch“geltenden Gast gefragt, denkt Merkel kurz nach. Prompt prescht Österreich­s Kanzler vor und geht dazwischen. „Jung stimmt sicher. Forsch wage ich zu bezweifeln“, antwortet er anstelle von Merkel. „Dynamisch würde ich nicht ablehnen“, rät die Kanzlerin augenzwink­ernd. Und das Problem des jungen Alters werde „von Tag zu Tag besser“.

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FOTO: DPA Empfang mit militärisc­hen Ehren: Bundeskanz­lerin Angela Merkel begrüßt Österreich­s Bundeskanz­ler Sebastian Kurz in Berlin.
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FOTO: DPA Zwei höchst unterschie­dliche Politikert­ypen: Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz.

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