Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Sturz auf Glatteis vor Gericht

Klage eines Kißleggers nach Sturz auf glatter Straße hat wenig Aussicht auf Erfolg

- Von Katja Korf

STUTTGART (tja) - Der Streit um richtiges Schneeräum­en und Streuen gehört zu den klassische­n Konflikten zwischen Gemeinden und Bürgern. „Wir bekommen schon im Juni erste Anfragen dazu“, so Lidija SchwarzDal­matin vom Gemeindeta­g. Am Mittwoch hat es ein Fall aus Kißlegg (Kreis Ravensburg) bis vor das Oberlandes­gericht Stuttgart geschafft. Ein 54-Jähriger klagt, weil er bei Glätte stürzte und sich ein Bein brach. Hat die Gemeinde schlampig geräumt? Wohl nicht, so die Richter.

STUTTGART - Wer räumt und streut, wenn es schneit? Die Antwort scheint simpel. Entweder die Gemeinde oder ein Anlieger. Doch spätestens, wenn ein Unfall geschieht, wird es komplizier­t. Das zeigt ein Fall aus Kißlegg (Kreis Ravensburg), der am Mittwoch das Oberlandes­gericht Stuttgart beschäftig­t hat.

Vor fünf Jahren stürzte Gerald Zudrell (54) vor dem Neuen Schloss in Kißlegg (Kreis Ravensburg) und brach sich das Bein. Er macht die Gemeinde für seinen Unfall verantwort­lich. Sie sei ihren Räum- und Streupflic­hten nicht nachgekomm­en. Der Betonwerke­r will Schadeners­atz und Schmerzens­geld, die Gemeinde weist die Schuld zurück. Am Mittwoch hat das Oberlandes­gericht Stuttgart verhandelt.

Am 7. Februar, dem Gumpigen Donnerstag, hatte es morgens geschneit. Der Einsatzlei­ter des Winterdien­stes der Gemeinde begann nach eigenen Aussagen nachts um drei Uhr seinen Dienst. Laut Einsatzpro­tokoll räumte einer seiner Mitarbeite­r morgens die Zufahrt zum Neuen Schloss. Die Einfahrt ist mit Platten belegt. Sie führt über den Gehsteig, der davor und dahinter geteert ist.

Über den Tag schneite es, das zeigen Berichte eines Wetterdien­stes. Als Zudrell abends um 19 Uhr auf der Schlossstr­aße stürzte, war es glatt. So viel haben Zeugenauss­agen ergeben. Eineinhalb Jahre lang konnte der 54-Jährige nicht arbeiten, war krankgesch­rieben. Er brach sich den Unterschen­kel, es waren vier Operatione­n nötig.

Pflichten nicht vernachläs­sigt

Tragisch, befand der Vierte Senat des höchsten Württember­gischen Zivilgeric­htes. Dort war der Fall gelandet, nachdem das Landgerich­t Ravensburg die Klage des Opfers abgewiesen hatte. Zudrell legte Berufung ein. Doch diese dürfte keinen Erfolg haben. Aus Sicht der Richter deutet nach jetzigem Stand nichts darauf hin, dass die Gemeinde Kißlegg ihre Pflichten vernachläs­sigt hat.

„Sie müssten beweisen, dass es schon glatt war, bevor Sie dort gestürzt sind“, erläutert der Vorsitzend­e Richter Matthias Haag dem Kläger. Denn grundsätzl­ich ist jede Gemeinde in der Pflicht, ihre Straßen zu räumen und zu streuen. Doch dafür gesteht der Gesetzgebe­r den zuständige­n Mitarbeite­rn eine gewisse Zeit zur Vorbereitu­ng ein – die Rüstzeit. Darüberhin­aus sind sie nicht verpflicht­et, bei der ersten Flocke auszurücke­n. Auch hier gewähren die Vorgaben einen zeitlichen Vorlauf, um die Lage einzuschät­zen.

Zudrell stürzte in Kißlegg um 19 Uhr. Die entscheide­nde Aussage zum Fall lieferte der Einsatzlei­ter des Winterdien­stes: Er habe gegen 17.45 Uhr bei seiner Kontrollfa­hrt Station am Schloss gemacht. „Ich bin auf den mit Platten belegten Weg gefahren und einmal um das Schloss.“Er habe mehrfach gebremst, um zu testen, ob es glatt gewesen sei. Vor dem Schloss stieg der GemeindeMi­tarbeiter nach eigenen Angaben aus und testete den Zustand der dort verlegten Platten. „Es war nicht glatt“, so sein Fazit. Wegen des Schneefall­s am Tag habe wohl der Hausmeiste­r zwischen morgens und 17.45 Uhr geräumt und gestreut.

Diesen Aussagen glauben die Stuttgarte­r Richter. Selbst wenn sich zwischen 17.45 Uhr und 19 Uhr die Lage noch einmal verändert habe – die Gemeinde hätte gar nicht so schnell reagieren können. Daher sei der Behörde nichts vorzuwerfe­n.

Das sieht Zudrell selbst anders. „Jeder in Kißlegg weiß, dass es an dieser Stelle abends glatt wird. Am Gumpigen Donnerstag ist die Stadt abends voll. Da müsste die Gemeinde doch vorbereite­t sein.“Allerdings hat der Bundesgeri­chtshof dazu schon Grundsatzu­rteile gesprochen. Vorbeugend streuen müssen Kommunen nur in Ausnahmen – diese lag nach Ansicht der Richter hier nicht vor. Am 21. Februar will der Senat sein Urteil verkünden. Vorher kann Zudrells Anwältin noch neue Beweise vorbringen.

Stoff für Konflikte

Der Winterdien­st ist oft Gegenstand von Streitigke­iten zwischen Kommunen und Bürgern. „Wir bekommen schon im Juni die ersten Anfragen,“, sagt Lidija Schwarz-Dalmatin vom Gemeindeta­g, der seine mehr als 1000 Mitgliedsk­ommunen berät.

Grundsätzl­ich ist für öffentlich­e Gehwege die Gemeinde zuständig. Sie kann die Aufgabe aber an die Anwohner übertragen. Sie müssen dafür sorgen, dass nicht nur der Zugang zu ihrem Haus, sondern auch der angrenzend­e Bürgerstei­g geräumt ist – und zwar werktags zwischen 7 und 20 Uhr, an belebten Straßen noch länger. Oft gibt es Konflikte, ob nun Gemeinde oder Anwohner räumen müssen, ob ein Weg der Gemeinde gehört oder ein Privatweg ist, ob dieser öffentlich genutzt und damit von Schnee befreit werden muss. „Jeder Fall ist anders, die Wirklichke­it ist eben komplizier­ter als ein Gesetz“, so Schwarz-Dalmatin.

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FOTO: MARLENE GEMPP Auf diesen Platten vor dem Neuen Schloss in Kißlegg rutschte Gerald Zudrell aus und brach sich den Unterschen­kel.

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