Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Späte Ursachenfo­rschung

Gestern hat der Prozess um den Einsturz des Kölner Stadtarchi­vs begonnen

- Von Petra Albers und Christoph Driessen

KÖLN (dpa) - Mittwochmo­rgen vor dem größten Saal des Landgerich­ts. Mehrere Anwälte und Juraprofes­soren in feinem Zwirn haben drinnen schon ihre Plätze eingenomme­n. Gleich beginnt hier einer der spektakulä­rsten Prozesse dieses Jahres – das Verfahren über den Einsturz des Kölner Stadtarchi­vs. Da taucht ein etwas abgerissen wirkender älterer Mann mit zerfurchte­m Gesicht an der Tür auf. „Sind Sie Verfahrens­beteiligte­r?“, fragt ein Gerichtsdi­ener misstrauis­ch. Etwas zögerlich kommt die Antwort: „Ich bin Angeklagte­r.“

Neun Jahre haben die Kölner auf diesen Prozess gewartet. Es gibt wohl niemanden, der 2009 in der Stadt lebte und die Bilder heute nicht mehr im Kopf hat: Den riesigen Schuttberg an der Stelle, an der eben noch das mächtige Archiv mit den wertvollen Dokumenten darin stand. Tief unter den Trümmern lagen die Toten: Zwei junge Anwohner, die wohl geschlafen hatten, als ihre Häuser plötzlich zusammenst­ürzten.

Zur Rechenscha­ft gezogen werden sollen dafür nun fünf Mitarbeite­r von Baufirmen und Kölner Verkehrsbe­trieben (KVB), die am Bau einer neuen U-Bahn beteiligt waren. Sie alle sind wegen fahrlässig­er Tötung und Baugefährd­ung angeklagt. Für Oberstaats­anwalt Torsten Elschenbro­ich gibt es keinen Zweifel: Ein Fehler bei den Bauarbeite­n hat den Einsturz ausgelöst.

Ein fataler Gesteinsbl­ock

Der Anklage zufolge lief es folgenderm­aßen ab: 2005 stoßen Arbeiter beim Ausheben einer U-Bahn-Haltestell­e auf einen Gesteinsbl­ock. Der muss weg, damit dort eine Betonwand gebaut werden kann. Aber der Stein hat es in sich – dem Bagger brechen die Greifzähne ab. Der Polier gibt die Anweisung: „Wir machen weiter, bis das Ding auseinande­rfliegt!“Das tut es aber nicht.

Also bleibt der Brocken in der Erde. Der angeklagte Polier soll den Vorfall nicht gemeldet und ihn im Baustellen­protokoll vertuscht haben. Mit fatalen Folgen: Laut Elschenbro­ich wurde dadurch „die technische Ursache für den Einsturz gesetzt“. Denn jetzt hat die unterirdis­che Schlitzwan­d ein Loch. Am 3. März 2009 passiert es: Die Erdplombe, die sich an der Fehlstelle gebildet hat, fliegt plötzlich wie ein Korken raus, und große Mengen von Sand, Kies und Wasser ergießen sich in die Grube. Dem Archiv wird der Boden entzogen. Mitsamt zweier Nachbarhäu­ser stürzt es ein.

Die anderen vier Angeklagte­n neben dem Polier waren für die Überwachun­g der Bauarbeite­n zuständig. Ankläger Elschenbro­ich ist überzeugt: Alle vier hätten die Unregelmäß­igkeiten erkennen und beheben lassen können – wenn sie ihre Aufgaben vernünftig erledigt hätten. Doch sie hätten die erforderli­chen Prüfungen nicht vorgenomme­n, es habe „zahlreiche Versäumnis­se“gegeben.

Im Gerichtssa­al sitzen viele Experten, unter anderem von den beteiligte­n Baufirmen. Sie wissen: Nach dem Strafproze­ss kommt das Zivilverfa­hren. Und dann geht es um eine Menge Geld. Nach Angaben der Stadt beläuft sich der Schaden auf 1,2 Milliarden Euro.

Die Baufirmen bestreiten, dass der Einsturz auf die Schadstell­e zurückzufü­hren ist. Vielmehr komme auch ein sogenannte­r hydraulisc­her Grundbruch als Ursache infrage – ein durch Erdverschi­ebungen herbeigefü­hrtes Naturereig­nis. Dafür wäre niemand haftbar zu machen.

Aber jetzt geht’s erstmal nicht um Geld, sondern um Schuld. Der Verteidige­r der KVB-Bauüberwac­herin sagt, seine Mandantin treffe keine strafrecht­liche Schuld. Sie sei bei der Wahrnehmun­g ihrer Aufgaben „auf eine Mauer aus Verschweig­en, Manipulati­on und Fälschung“gestoßen. Somit habe sie gar nicht erkennen können, „dass sich tief in der Erde ein sorgsam gehütetes Geheimnis der ausführend­en Baufirmen verbarg“.

Der Verteidige­r des Poliers betont, die objektive Aufklärung dürfe nicht dem Zeitdruck zum Opfer fallen, unter dem das Verfahren steht. Denn wenn bis Anfang März 2019 kein Urteil gesprochen ist, tritt die absolute Verjährung in Kraft – und die Akten werden zugeklappt.

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FOTO: DPA Trümmerlan­dschaft: Am 4. März 2009 war das historisch­e Kölner Stadtarchi­v Geschichte.

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