Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Gesucht: Aschenbachs Erbe
Vor 45 Jahren war Oberstdorf erstmals, jetzt ist es zum sechsten Mal Gastgeber der Skiflug-WM
OBERSTDORF - „Skifliegen“, hat Michael Uhrmann einmal gesagt, der wahrlich kein Schlechter seiner Zunft gewesen ist, „kann niemand verstehen, der es noch nie gemacht hat.“Mag stimmen. Faszinieren, begeistern aber kann Skifliegen auch, wenn man „nur“zuschaut. Gelegenheit hierzu – auf höchstem Niveau – gibt es von heute, Donnerstag, bis Sonntag, wenn Oberstdorf zum sechsten Mal Schauplatz einer Skiflug-Weltmeisterschaft ist. Der Titelverteidiger heißt Peter Prevc (Slowenien); die deutschen Hoffnungen tragen vor allem Richard Freitag, der zwei Wochen nach dem Sturz von Innsbruck sein Comeback geben wird, und Andreas Wellinger. Er war am Premieren-Wochenende der neuen Heini-Klopfer-Flugschanze vor Jahresfrist erst nach 238 Metern gelandet – Schanzenrekord. Gewonnen allerdings hat die beiden WeltcupFliegen 2017 Stefan Kraft aus Österreich. Prognosen? Sind schwierig. Bis auf eine: Es könnte spannend werden – wie bereits 1973, 1981, 1988, 1998 und 2008. Ein Rückblick:
2. Skiflug-WM, März 1973: Der beste Fisch kommt aus Brotterode
Zur WM-Party im Kurhaus spielte das Tanzorchester des Westdeutschen Rundfunks unter Werner Müller auf, gesprungen wurde im „FischStil“: mit weiter Vorlage, die Hände am Körper anliegend, die Ski parallel. Ja, und der spätere Weltmeister ist mit „viel Angst“aus dem thüringischen Brotterode nach Oberstdorf angereist. „Wir hatten“, erinnert sich Hans-Georg Aschenbach, 21 damals und Sportstudent, „alle einen Heidenrespekt. Das Herz war nicht mehr da, wo es hingehörte.“SkiflugWeltmeisterschaft war, zum zweiten Mal überhaupt erst, und die aufwendig umgebaute Heini-Klopfer-Flugschanze – „diese neue, freischwebende Konstruktion des Anlaufturms“– sah „einfach unglaublich aus. Alles war so riesig und Furcht einflößend.“
Alles begann mit einem Weltrekord: Heinz Wosipiwo blieb beim ersten offiziellen Probefliegen 169 Meter in der Luft. 165 Meter war sein DDR-Teamkollege Manfred Wolf 1969 in Planica geflogen. Übertroffen! An einem Tag, an dem Titelverteidiger Walter Steiner vom Schweizer SC Waldhaus einen 175Meter-Versuch nicht stand, an einem Tag, an dem Weiten jenseits des kritischen Punktes (damals 165 Meter) geschätzt wurden. Die Organisatoren hatten es schlicht versäumt, auch hier Weitenmesser zu postieren ...
Alles endete in/wegen der Allgäuer Wintersonne. Zu starke Thermik war ihr Begleiter; der Abbruch von Wertungstag zwei wurde um 15.55 Uhr verkündet. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher hatte sich da schon verabschiedet. Zum Titel gratulieren können hätte er Hans-Georg Aschenbach, der an Wertungstag eins 157 und 152 Meter geflogen war, 418,5 Punkte gesammelt hatte. 0,5 Punkte weniger standen für Walter Steiner zu Buche. Seine 156 und 163 Meter kommentierte Hans-Georg Aschenbach später so: „Es wäre fair gewesen, wenn man uns beide zu Weltmeistern erklärt hätte.“
6. Skiflug-WM, Februar 1981: Auch ohne jede Erfahrung stark
Thomas Ihle? 15 Jahre jung, Malerlehrling aus Oberstdorf, Deutscher Schülermeister 1979. Das ungefähr wusste man über den jungen Mann, der beim ersten Einspringen des WM-Bakkens im Stillachtal seine Skiflug-Premiere feierte. Nein: gefeiert wurde. Bei 175 Metern hatten Thomas Ihles Ski wieder Schneekontakt. „Kein bisschen Angst“, sagte er, habe er in der Luft gehabt. Gerade einen Meter weiter lag zu diesem Zeitpunkt der Weltrekord.
Den stellte zwei Tage später der Skiflug-Weltmeister von 1979, Armin Kogler aus Vomp bei Innsbruck, auf 180 Meter. Dann aber fand der Tiroler seinen (Welt-)Meister: in Jari Markus Puikkonen, im Hauptberuf Angestellter im Skisprungstadion vom Lahti. 174, 169 und 160 Meter flog der 21-jährige Finne am ersten Wertungstag, am zweiten 170 und 165, schließlich 171 und 168 Meter. 60,5 Punkte sind ein satter Vorsprung – der Unterschied zwischen Gold und Silber. Bemerkenswert: Jari Puikkonen war ohne jede Skiflug-Erfahrung nach Oberstdorf gekommen.
Das übrigens galt auch für einen gewissen Andreas Bauer: Einheimischer, Realschüler, gerade 17 geworden – und nach dem ersten Durchgang mit 159 Metern Überraschungszweiter. „Jetzt“, sollte der heutige Trainer von Carina Vogt, Katharina Althaus & Co. danach sagen, „habe ich das Gefühl fürs Skifliegen entdeckt.“Gelächelt, so ist überliefert, habe er dabei. Glücklich gelächelt.
10. Skiflug-WM, März 1988: Nach den Wirten freut sich Fidjestøl
Matti Nykänen war da, souveräner Vierschanzentournee-Gewinner des Winters, soeben dreimal (!) Gold-dekoriert bei den Olympischen Winterspielen in Calgary. Matti Nykänen war da, seit vier Jahren der Schanzenrekordhalter auf der Heini-Klopfer-Flugschanze.
Seine 185 Meter würden nicht wackeln, ein neues Reglement bremste die Weitenjagd um jeden Preis. Zu Recht, sagte Bundestrainer Ewald Roscher, den sie den Skisprung-Professor nannten: „Einen Weltrekord braucht man vielleicht für die Fremdenverkehrswerbung, aber nicht für das Skifliegen. Niemals darf der Rekord in den Vordergrund und die Gefahr in den Hintergrund gestellt werden."
In den Vordergrund stellte sich in Oberstdorf zunächst der Schnee. Dichter Flockenwirbel machte die Qualifikation unmöglich, der Chronist der „Schwäbischen Zeitung“notierte: „Der Aktiven Leid, der Wirte Freud. Die Schanzenauslauf-Kneipe des Oberstdorfer Skiflieger-Heros Sepp Weiler (,Skifliegen isch a Gfui‘) ist restlos überfüllt. Vor dem Löwenbräu-Bierzelt steht die Polizei und lässt keinen mehr hinein: wg. Überfüllung.“
Als geflogen werden konnte – weil die Tretkommandos von Sonntagmorgen, 2 Uhr, an unermüdlich getreten hatten – legte Matti Nykänen einen rätselhaften Probedurchgang (91 Meter) hin, ehe er Bronze-Kurs einschlug. Primož Ulaga aus Ljubljana hatte einen besseren Tag erwischt, der Norweger Ole Gunnar Fidjestøl einen noch besseren. Die finalen 179 Meter des Jugoslawen konterten 181 made in Vikersund. Binnen drei Stunden hatten die Veranstalter dem Wetter einen Weltmeister abgerungen: einen bald 28-Jährigen, der im Sommer als Bankangestellter jobbte und seinen ersten OberstdorfKontakt einer ungewöhnlichen Initiative verdankte. Als Ole Gunnar Fidjestøl 1983/84 noch nicht zum norwegischen A-Kader gehörte, sammelten der Gemeindepfarrer, die Lokalzeitung und der örtliche Skiclub Geld, um ihm die Teilnahme an der Vierschanzentournee zu ermöglichen. Der so Gesponserte zahlte auf seine Weise retour: Am Schattenberg wurde er Dritter, im Tourneeklassement Fünfter. Bester Norweger außerdem.
15. Skiflug-WM, Januar 1998: Funakis Form ist schon olympisch
Die 209 Meter stimmten versöhnt. „Über den Schanzenrekord“, gab Dieter Thoma zu Protokoll, „freu’ ich mich ehrlich.“Ehrlich geärgert hatte sich der Schwarzwälder tags zuvor über Rückenwind und den so ziemlich langsamsten Ski der gesamten Konkurrenz. Bretter gewechselt, aus Wut Weite gemacht, aus Blech noch Bronze. Die Menge raste. Auch wenn Sven Hannawald seine Halbzeitführung auf der (mal wieder) modernisierten Heini-Klopfer-Schanze nicht in Gold verwandeln konnte: Platz zwei für den zweiten Hinterzartener.
Die Lufthoheit über Birgsau erflog sich einer, der den Beinamen „Kamikaze“trug, ob seines verwegenen V-Stils – Nasenspitze zwischen den Skispitzen! – kollektiv bewundert wurde und bei der Vierschanzentournee keinen Monat zuvor mit drei Tagessiegen gezeigt hatte, dass das sein Winter werden würde: Kazuyoshi Funaki. „Einfach ein Alleskönner“sei der Japaner, lobte Reinhard Heß. Bestätigt sah sich der Bundestrainer schon Mitte Februar in Nagano. Skiflug-Weltmeister Funaki gewann drei Olympiamedaillen; seinen Goldsprung von der Großschanze sahen die Punktrichter ausnahmslos als perfekt an, bewerteten ihn mit fünfmal einer 20,0.
20. Skiflug-WM, Februar 2008: Schlierenzauer sehr, sehr lässig
Erstmals stürzen sich die Protagonisten in Oberstdorf bei Flutlicht um WM-Medaillen zu Tale. Einem, der fliegend zuvor am hellsten gestrahlt hatte, nutzte das herzlich wenig: Roar Ljøkelsøy war als Einzel- und Teamweltmeister 2004 und 2006 ins Allgäu gekommen, den Schanzenrekord hielt der Norweger, doch jetzt flog er keine 223, sondern 176 Meter. Die Zäsur von 40 auf 30 Sportler nach WM-Durchgang eins (von vieren) hatte ein prominentes Opfer, der heutige Co-Trainer des deutschen Teams war fortan bloß noch Tourist.
Und sah, wie der 18-jährige Gregor Schlierenzauer vom SV Innsbruck Bergisel sein Ziel Meter werden ließ bei der ersten Skiflug-Konkurrenz einer großen Karriere. „Ohne 200er will ich nicht aus Oberstdorf heimkommen!“Neun Flüge später ist das gleich sechsmal geschafft – und Gregor Schlierenzauer Weltmeister. Schwärmender Weltmeister: „Einfach ins Fliegen kommen, die Luft genießen, ja mit der Luft spielen: Wahnsinn! Skifliegen kann eine sehr, sehr lässige Sportart sein.“Vor allem, wenn die Teamkollegen einem kaum nachstehen: Mannschaftsgold gab es mit Martin Koch, Thomas Morgenstern, und Andreas Kofler als Zugabe. Deutschland wurde Vierter, Rückstand auf Austrias Überflieger waren 191,6 Punkte. Oder, in Weite umgerechnet, 160 – also je Flug 20 (!) – Meter. Skifliegen kann niemand verstehen, der es noch nie gemacht hat.
Das Aufgebot des Deutschen Skiverbandes für Oberstdorf: Markus Eisenbichler (TSV Siegsdorf), Richard Freitag (SG Nickelhütte Aue), Karl Geiger (SC Oberstdorf), Stephan Leyhe (SC Willingen), Andreas Wellinger (SC Ruhpolding).