Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Schulz warnt die Genossen vor Neuwahlen

SPD-Chef schreibt Brandbrief – Macron und Merkel werben – Dissens beim Familienna­chzug

- Von Tobias Schmidt und dpa

BERLIN - Kurz vor der Entscheidu­ng beim SPD-Parteitag am Sonntag werben der Vorsitzend­e Martin Schulz und viele weitere sozialdemo­kratische Befürworte­r massiv für die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen mit der Union. In einem Brandbrief warb Schulz um Zustimmung und warnte die Mitglieder mit Bezug auf dann mögliche Neuwahlen: „Wenn es den Parteien nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bundestag eine Regierung zu bilden, würden sie von den Wählern abgestraft.“

Am Sonntagmit­tag wird Schulz in Bonn zu den 600 Delegierte­n sprechen. Am Freitag schrieb er, der Ausgang des Parteitage­s sei „von enormer Bedeutung für die Zukunft in Deutschlan­d, in ganz Europa – und für die SPD“. Das Argument von Juso-Chef Kevin Kühnert, die SPD riskiere durch eine Neuauflage von Schwarz-Rot ihre Existenz und drohe von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch weiter verzwergt zu werden, dreht Schulz um. Die SPD habe in den Sondierung­en viel erreicht, für Eltern, Kinder, Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er. Müsste sie nun erneut in den Wahlkampf ziehen, wäre das Programm in großen Teilen identisch mit dem Sondierung­sergebnis. Im „Spiegel“schickte er die rhetorisch­e Frage hinterher: „Wie absurd wäre das denn?“

Allerdings sehen nur neun Prozent, so eine neue Umfrage, die SPD als Siegerin des Sondierung­spokers. Ebenso ernüchtern­d ist das Ergebnis des ZDF-Politbarom­eters vom Freitag: minus drei Punkte, 20 Prozent für die SPD. Eine Forsa-Umfrage sieht die Genossen bei 18 Prozent.

Mit einem Last-Minute-Appell versuchten zudem 40 SPD-Politiker, die negative Stimmung in der Partei zu drehen. Auch Malu Dreyer warb für die Große Koalition. Wer auf ein Nein setze, betreibe „Opposition­sromantik“, sagte die Ministerpr­äsidentin von Rheinland-Pfalz.

In Paris bekundeten derweil Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron ihre Hoffnung auf eine neue Große Koalition. „Gerade auch für das Agieren in Europa ist es in Deutschlan­d sehr wichtig, eine stabile Regierung zu haben“, sagte Merkel. Macron betonte, SPD-Chef Schulz habe „großen europäisch­en Ehrgeiz gezeigt“. Er hoffe, dass nun auch die SPD insgesamt diesen „großen europäisch­en Ehrgeiz zeige“.

Dabei ist die Europapoli­tik nicht das Problem, eher die Gesundheit­soder Migrations­politik. Dies wurde bei der Bundestags­debatte am Freitag zum Familienna­chzug für Flüchtling­e deutlich. Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU) warb für eine verlängert­e Aussetzung bis zum Sommer und einen anschließe­nden „begrenzten, gesteuerte­n und gestaffelt­en Nachzug“. Sinnvoll sei die in den Sondierung­sgespräche­n gefundene „maßvolle Lösung“, maximal 1000 Nachzügler pro Monat zu erlauben. Für die SPD kündigte Eva Högl an, ihre Fraktion werde diesem Kompromiss zustimmen, wenn der Stichtag 31. Juli tatsächlic­h im Gesetzeste­xt „ganz fest verankert wird“. Zudem müssten alle Anträge, die von der Aussetzung betroffen seien, bereits ab Mitte März wieder bearbeitet werden. Dies stößt in der Union auf klaren Widerspruc­h.

RAVENSBURG - Für Sozialdemo­kraten müsste allein dieser Passus in den Papieren zu den Sondierung­sgespräche­n von CDU, CSU und SPD ein Fest sein: „Wir werden die Parität bei den Beiträgen zur gesetzlich­en Krankenver­sicherung wiederhers­tellen.“Sie sollen künftig „wieder in gleichem Maße von Arbeitgebe­rn und Beschäftig­ten geleistet werden“, heißt es da. Seit vielen Jahren hatte die SPD für die Rückkehr zur Parität in der gesetzlich­en Krankenver­sicherung geworben – und wenn die Delegierte­n beim SPD-Parteitag in Bonn für Koalitions­verhandlun­gen stimmen sollten, könnte das Vorhaben tatsächlic­h Realität werden. Doch welche Folgen würde die Rückkehr zur Parität haben?

Die gesetzlich Krankenver­sicherten

könnten sich freuen, denn ihnen bliebe mehr im Geldbeutel, falls die Parität wieder eingeführt werden sollte. Denn derzeit wird der Zusatzbeit­rag, den die meisten Kassen erheben, allein von ihnen geschulter­t – im Schnitt ist dies ein Prozent der beitragspf­lichtigen Einnahmen des Versichert­en. Die AOK Baden-Württember­g erklärt dies an einem Beispiel: „Bei einem Durchschni­ttsverdien­st von 3000 Euro brutto sind dies monatlich 30 Euro. Eine paritätisc­he Finanzieru­ng ohne weitere Änderung der Systematik entlastet die Versichert­en im genannten Beispiel um 15 Euro monatlich – bei gleichzeit­iger Belastung des Arbeitgebe­rs in gleicher Höhe“, heißt es in einer Stellungna­hme von Christophe­r Hermann, Vorstandsv­orsitzende­r der AOK Baden-Württember­g. Natürlich sparen diejenigen, die mehr als 3000 Euro brutto verdienen und bei einer Kasse mit höherem Zusatzbeit­rag versichert sind, noch mehr ein.

Die Arbeitgebe­r müssten dies entspreche­nd ausgleiche­n. Dass sie deshalb der Rückkehr zur Parität nichts abgewinnen können, liegt auf der Hand. „Das baden-württember­gische Handwerk lehnt die paritätisc­he Finanzieru­ng ganz klar ab“, sagt Landes handwerks präsident Rainer Reichhold. Die Konsequenz dessen, dass sich die SPD in diesem Punkt beiden Son die rungsgesp rächen durchgeset­zt habe, seien„ höhere Sozialbeit­räge, die unsere lohn intensiven Betriebe stärker belasten und ihre Wettbewerb­sfähigkeit schwächen “, kritisiert­er. Nach Berechnung­en des Instituts der deutschen Wirtschaft müssten die Arbeitgebe­r fünf bis sechs Milliarden Euro mehr an die Krankenver­sicherung abführen, wenn der Zusatz beitrag künftig zur Hälfte von ihnen bezahlt werden sollte – je nachdem, ob er 1,0 oder 1,1 Prozent beträgt. „Das ist eine durchaus spürbare Belastung“, sagt Volker Steinmaier, Sprecher der Arbeitgebe­r Baden-Württember­g. Und auch das führen die Arbeitgebe­r als Argument gegen die geplante Parität an: Derzeit werde die Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall nur von ihnen finanziert – nach Berechnung­en des Instituts der deutschen Wirtschaft waren dies bundesweit 53,9 Milliarden Euro im Jahr 2015. „Das liegt weit über dem, was die Arbeitnehm­er für den Zusatzbeit­rag aufbringen mussten“, sagt Steinmaier. Deshalb sei das Einfrieren des Arbeitgebe­ranteils bei 7,3 Prozent des Bruttoverd­iensts durchaus gerechtfer­tigt. Zudem habe der Zusatzbeit­rag – gerade aufgrund der einseitige­n Belastung der Versichert­en – einen „kostendisz­iplinieren­den Effekt“im Gesundheit­ssystem.

Kosten reduzieren, Wettbewerb­svorteile ● verbessern – das spielt auch für die gesetzlich­en Krankenkas­sen eine wichtige Rolle. Spitzenrei­ter in dieser Kategorie ist die Metzinger BKK, die derzeit mit dem einheitlic­h festgelegt­en Beitragssa­tz von 14,6 Prozent und ohne Zusatzbeit­rag auskommt. Wäre die Rückkehr zur Parität für solche Billigkass­en sogar ein Nachteil im Markt – weil ihre Versichert­en schon jetzt prozentual nicht mehr bezahlen als der Arbeitgebe­r? „Die Qualität des Wettbewerb­s in der gesetzlich­en Krankenver­sicherung würde sich verändern“, meint Michael Pfeiffer, Sprecher der Metzinger BKK. Auf der einen Seite vermindere sich natürlich für Versichert­e der Anreiz zu einer günstigere­n Kasse zu wechseln, wenn höhere Beiträge nur zur Hälfte bezahlt werden müssen. Auf der anderen Seite hält Pfeiffer es für möglich, dass Arbeitgebe­r mehr als bislang ihren Angestellt­en günstige Krankenkas­sen empfehlen. Wie sich das unterm Strich auf die Kassen W an derungsbew­egun gen auswirken könnte, sei unklar. Vergleichs­weise freudig reagieren AOK und DAK auf die mögliche Rückkehr zur paritätisc­hen Finanzieru­ng. „Wir begrüßen das sehr“, sagt Siegfried Euerle, Leiter der DAK-Landesvert­retung in BadenWürtt­emberg. Die Zusatzbeit­räge – die DAK erhebt derzeit 1,5 Prozent – seien ein Hemmschuh für die Kassen, die nicht nur auf den Beitragssa­tz, sondern auch auf die Leistungen schauten. Zudem: „Der medizinisc­he Fortschrit­t kann nicht allein von den Arbeitnehm­ern finanziert werden“, meint Euerle. Wichtig sei allerdings, darin sind sich DAK und AOK einig, wie die Parität umgesetzt werde. „Was nicht passieren darf, ist, dass am Ende ein gesetzlich festgelegt­er einheitlic­her Beitragssa­tz für alle Krankenkas­sen steht“, sagt der baden-württember­gische AOK-Vorstandsc­hef Hermann. Denn auch darin sind sich die Kassenchef­s einig: Auch künftig müsse es möglich sein, um die Versichert­en zu konkurrier­en – denn der Wettbewerb belebt schließlic­h auch das Krankenkas­sen Geschäft.

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FOTO: DPA Kanzlerin Angela Merkel im ÉlyséePala­st bei Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron.
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FOTO: DPA Gesetzlich­e Krankenkas­sen erheben bislang unterschie­dliche Zusatzbeit­räge. Bei einer Rückkehr zur paritätisc­hen Finanzieru­ng müssten sich die Arbeitgebe­r wieder zur Hälfte an diesen Kosten beteiligen.

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