Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Schulz warnt die Genossen vor Neuwahlen
SPD-Chef schreibt Brandbrief – Macron und Merkel werben – Dissens beim Familiennachzug
BERLIN - Kurz vor der Entscheidung beim SPD-Parteitag am Sonntag werben der Vorsitzende Martin Schulz und viele weitere sozialdemokratische Befürworter massiv für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union. In einem Brandbrief warb Schulz um Zustimmung und warnte die Mitglieder mit Bezug auf dann mögliche Neuwahlen: „Wenn es den Parteien nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bundestag eine Regierung zu bilden, würden sie von den Wählern abgestraft.“
Am Sonntagmittag wird Schulz in Bonn zu den 600 Delegierten sprechen. Am Freitag schrieb er, der Ausgang des Parteitages sei „von enormer Bedeutung für die Zukunft in Deutschland, in ganz Europa – und für die SPD“. Das Argument von Juso-Chef Kevin Kühnert, die SPD riskiere durch eine Neuauflage von Schwarz-Rot ihre Existenz und drohe von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch weiter verzwergt zu werden, dreht Schulz um. Die SPD habe in den Sondierungen viel erreicht, für Eltern, Kinder, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Müsste sie nun erneut in den Wahlkampf ziehen, wäre das Programm in großen Teilen identisch mit dem Sondierungsergebnis. Im „Spiegel“schickte er die rhetorische Frage hinterher: „Wie absurd wäre das denn?“
Allerdings sehen nur neun Prozent, so eine neue Umfrage, die SPD als Siegerin des Sondierungspokers. Ebenso ernüchternd ist das Ergebnis des ZDF-Politbarometers vom Freitag: minus drei Punkte, 20 Prozent für die SPD. Eine Forsa-Umfrage sieht die Genossen bei 18 Prozent.
Mit einem Last-Minute-Appell versuchten zudem 40 SPD-Politiker, die negative Stimmung in der Partei zu drehen. Auch Malu Dreyer warb für die Große Koalition. Wer auf ein Nein setze, betreibe „Oppositionsromantik“, sagte die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz.
In Paris bekundeten derweil Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihre Hoffnung auf eine neue Große Koalition. „Gerade auch für das Agieren in Europa ist es in Deutschland sehr wichtig, eine stabile Regierung zu haben“, sagte Merkel. Macron betonte, SPD-Chef Schulz habe „großen europäischen Ehrgeiz gezeigt“. Er hoffe, dass nun auch die SPD insgesamt diesen „großen europäischen Ehrgeiz zeige“.
Dabei ist die Europapolitik nicht das Problem, eher die Gesundheitsoder Migrationspolitik. Dies wurde bei der Bundestagsdebatte am Freitag zum Familiennachzug für Flüchtlinge deutlich. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) warb für eine verlängerte Aussetzung bis zum Sommer und einen anschließenden „begrenzten, gesteuerten und gestaffelten Nachzug“. Sinnvoll sei die in den Sondierungsgesprächen gefundene „maßvolle Lösung“, maximal 1000 Nachzügler pro Monat zu erlauben. Für die SPD kündigte Eva Högl an, ihre Fraktion werde diesem Kompromiss zustimmen, wenn der Stichtag 31. Juli tatsächlich im Gesetzestext „ganz fest verankert wird“. Zudem müssten alle Anträge, die von der Aussetzung betroffen seien, bereits ab Mitte März wieder bearbeitet werden. Dies stößt in der Union auf klaren Widerspruch.
RAVENSBURG - Für Sozialdemokraten müsste allein dieser Passus in den Papieren zu den Sondierungsgesprächen von CDU, CSU und SPD ein Fest sein: „Wir werden die Parität bei den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen.“Sie sollen künftig „wieder in gleichem Maße von Arbeitgebern und Beschäftigten geleistet werden“, heißt es da. Seit vielen Jahren hatte die SPD für die Rückkehr zur Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung geworben – und wenn die Delegierten beim SPD-Parteitag in Bonn für Koalitionsverhandlungen stimmen sollten, könnte das Vorhaben tatsächlich Realität werden. Doch welche Folgen würde die Rückkehr zur Parität haben?
Die gesetzlich Krankenversicherten
könnten sich freuen, denn ihnen bliebe mehr im Geldbeutel, falls die Parität wieder eingeführt werden sollte. Denn derzeit wird der Zusatzbeitrag, den die meisten Kassen erheben, allein von ihnen geschultert – im Schnitt ist dies ein Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen des Versicherten. Die AOK Baden-Württemberg erklärt dies an einem Beispiel: „Bei einem Durchschnittsverdienst von 3000 Euro brutto sind dies monatlich 30 Euro. Eine paritätische Finanzierung ohne weitere Änderung der Systematik entlastet die Versicherten im genannten Beispiel um 15 Euro monatlich – bei gleichzeitiger Belastung des Arbeitgebers in gleicher Höhe“, heißt es in einer Stellungnahme von Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Natürlich sparen diejenigen, die mehr als 3000 Euro brutto verdienen und bei einer Kasse mit höherem Zusatzbeitrag versichert sind, noch mehr ein.
Die Arbeitgeber müssten dies entsprechend ausgleichen. Dass sie deshalb der Rückkehr zur Parität nichts abgewinnen können, liegt auf der Hand. „Das baden-württembergische Handwerk lehnt die paritätische Finanzierung ganz klar ab“, sagt Landes handwerks präsident Rainer Reichhold. Die Konsequenz dessen, dass sich die SPD in diesem Punkt beiden Son die rungsgesp rächen durchgesetzt habe, seien„ höhere Sozialbeiträge, die unsere lohn intensiven Betriebe stärker belasten und ihre Wettbewerbsfähigkeit schwächen “, kritisierter. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft müssten die Arbeitgeber fünf bis sechs Milliarden Euro mehr an die Krankenversicherung abführen, wenn der Zusatz beitrag künftig zur Hälfte von ihnen bezahlt werden sollte – je nachdem, ob er 1,0 oder 1,1 Prozent beträgt. „Das ist eine durchaus spürbare Belastung“, sagt Volker Steinmaier, Sprecher der Arbeitgeber Baden-Württemberg. Und auch das führen die Arbeitgeber als Argument gegen die geplante Parität an: Derzeit werde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nur von ihnen finanziert – nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft waren dies bundesweit 53,9 Milliarden Euro im Jahr 2015. „Das liegt weit über dem, was die Arbeitnehmer für den Zusatzbeitrag aufbringen mussten“, sagt Steinmaier. Deshalb sei das Einfrieren des Arbeitgeberanteils bei 7,3 Prozent des Bruttoverdiensts durchaus gerechtfertigt. Zudem habe der Zusatzbeitrag – gerade aufgrund der einseitigen Belastung der Versicherten – einen „kostendisziplinierenden Effekt“im Gesundheitssystem.
Kosten reduzieren, Wettbewerbsvorteile ● verbessern – das spielt auch für die gesetzlichen Krankenkassen eine wichtige Rolle. Spitzenreiter in dieser Kategorie ist die Metzinger BKK, die derzeit mit dem einheitlich festgelegten Beitragssatz von 14,6 Prozent und ohne Zusatzbeitrag auskommt. Wäre die Rückkehr zur Parität für solche Billigkassen sogar ein Nachteil im Markt – weil ihre Versicherten schon jetzt prozentual nicht mehr bezahlen als der Arbeitgeber? „Die Qualität des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung würde sich verändern“, meint Michael Pfeiffer, Sprecher der Metzinger BKK. Auf der einen Seite vermindere sich natürlich für Versicherte der Anreiz zu einer günstigeren Kasse zu wechseln, wenn höhere Beiträge nur zur Hälfte bezahlt werden müssen. Auf der anderen Seite hält Pfeiffer es für möglich, dass Arbeitgeber mehr als bislang ihren Angestellten günstige Krankenkassen empfehlen. Wie sich das unterm Strich auf die Kassen W an derungsbewegun gen auswirken könnte, sei unklar. Vergleichsweise freudig reagieren AOK und DAK auf die mögliche Rückkehr zur paritätischen Finanzierung. „Wir begrüßen das sehr“, sagt Siegfried Euerle, Leiter der DAK-Landesvertretung in BadenWürttemberg. Die Zusatzbeiträge – die DAK erhebt derzeit 1,5 Prozent – seien ein Hemmschuh für die Kassen, die nicht nur auf den Beitragssatz, sondern auch auf die Leistungen schauten. Zudem: „Der medizinische Fortschritt kann nicht allein von den Arbeitnehmern finanziert werden“, meint Euerle. Wichtig sei allerdings, darin sind sich DAK und AOK einig, wie die Parität umgesetzt werde. „Was nicht passieren darf, ist, dass am Ende ein gesetzlich festgelegter einheitlicher Beitragssatz für alle Krankenkassen steht“, sagt der baden-württembergische AOK-Vorstandschef Hermann. Denn auch darin sind sich die Kassenchefs einig: Auch künftig müsse es möglich sein, um die Versicherten zu konkurrieren – denn der Wettbewerb belebt schließlich auch das Krankenkassen Geschäft.