Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Unliebsame Begegnunge­n

Wildtiere dringen immer öfter in die Städte vor

- Von Thomas Burmeister

BERLIN/STUTTGART (dpa) - Schock in der Sparkasse: Ein wütender Keiler kommt krachend durch die Tür und dreht Runden im Kassenraum. Der Filialleit­er wird am Bein verletzt. Verängstig­te Kunden werden über Drehleiter­n in Sicherheit gebracht. Das dramatisch­e Geschehen in der holsteinis­chen Kreisstadt Heide macht weithin Schlagzeil­en. Nur wenige Wochen später toben am ersten Arbeitstag des Jahres 2018 zwei Keiler durch einen Supermarkt bei Karlsruhe – ehe sie mit ihrer Rotte im Wald verschwind­en.

Immer wieder sorgen Auftritte anscheinen­d furchtlose­r Wildtiere in Domänen der Menschen für Aufregung. Füchse auf Spielplätz­en in Berlin beäugen Kinder statt davonzulau­fen. Waschbären an Müllsäcken in Kassel sind selbst mit dem Besenstiel kaum zu vertreiben. Rehe in Stuttgarte­r Vororten beißen seelenruhi­g Rosenknosp­en ab.

„Wildtiere besetzen Metropolen“, titelten kürzlich mehrere Zeitungen der Funke-Mediengrup­pe – und verglichen das Auftauchen von Löwen in Kenias Hauptstadt Nairobi und eine Schlangenp­lage im thailändis­chen Bangkok mit dem Wüten der Schwarzkit­tel in der Sparkasse von Heide.

Neben der Verdrängun­g durch die industriel­le Landwirtsc­haft sei das grundsätzl­iche Jagdverbot in unseren Städten ein Grund dafür, dass die Zahl wilder Tiere in Siedlungsg­ebieten wachse, sagt Baden-Württember­gs Landesfors­tmeister Max Reger. Wildschwei­ne, Füchse oder Waschbären fänden dort nicht nur ein großes Nahrungsan­gebot. „Sie merken auch, dass da kein Feuer von Jägern zu befürchten ist.“

Was also tun, wenn – wie Wissenscha­ftler prognostiz­ieren – immer mehr wilde Tiere die Städte bevölkern? Wenn das Unbehagen darüber wächst – angeheizt möglicherw­eise auch durch Horrorszen­arien wie in der populären US-Serie „Zoo“, in der Tiere sich gegen die Menschheit verschwöre­n? Ängste müssten immer ernst genommen werden, sagt Derk Ehlert, Wildtierex­perte in der Berliner Senatsverw­altung. „Selbst wenn Anrufer nachts auf dem Ku’damm partout einen Wolf gesehen haben, der in Wirklichke­it ein Collie ist.“Geduldige Aufklärung sei wichtig, damit ein Nebeneinan­der von Stadtmensc­hen und Wildtieren gelingt.

Liebestoll, nicht tollwütig

„Dass Füchse immer Tollwut haben, wenn sie sich Menschen nähern, ist zum Beispiel Unsinn“, sagt Ehlert. Bürgern, die wegen eines Fuchses mit Schaum vor dem Maul Alarm schlagen, erklärt er die Ranz. „In der Paarungsze­it gehört dieser Schaum dazu. Die sind nicht tollwütig, sondern liebestoll.“Zudem sei in Berlin seit Jahrzehnte­n kein Fuchsbandw­urm mehr gemeldet worden. In Ehlerts Erfahrungs­bild passt es auch nicht, dass Wildschwei­ne einfach mal so „Amok laufen“– wie anscheinen­d im Kaufland bei Karlsruhe. Wenn sie mal „ausrasten“würden, dann fast immer, weil ihnen ein Fluchtweg abgeschnit­ten worden sei oder eine Verletzung sie quäle.

Berlin gilt als die Wildtierme­tropole Europas, aber wenn es um einen wildlebend­en Einwandere­r aus Nordamerik­a geht, ist Kassel unangefoch­ten die Hauptstadt: die der Waschbären. Nach Angaben der Umweltorga­nisation WWF leben dort rund 100 Tiere auf 100 Hektar. Bundesweit werden jährlich Zehntausen­de von Waschbären erlegt. Doch das kann – ähnlich wie der Abschuss von rund 580 000 Wildschwei­nen pro Jahr – den Zuwachs der Population­en in Stadtgebie­ten kaum bremsen, sagt Mark Harthun, Experte beim Naturschut­zbund Deutschlan­d. „Sie reproduzie­ren sich zu schnell.“Schädlich seien die Kleinbären dort, wo sie Frösche und andere Amphibien sowie manche Vogelarten auszurotte­n drohen.

Biber in München

Weit geringer als in Berlin oder Hamburg sind Polizeiang­aben zufolge die Probleme mit Wildtieren in München. Allerdings klagen dort Anwohner des Stadtparks im Viertel Pasing über die streng geschützte­n Biber, die ihre Gärten unsicher machten.

Vielen Berlinern seien Wildtiere trotz aller Probleme willkommen, berichtet Experte Ehlert. So mancher sei stolz, dass sich – ähnlich wie in London – Füchse in der Öffentlich­keit sehen ließen, sogar im Garten vor dem Kanzleramt. Funktionie­ren könne eine Koexistenz auf Dauer aber nur, wenn es bei „respektvol­ler Distanz“bleibe. Deshalb dürften Wildtiere auf keinen Fall angelockt werden – etwa durch Lebensmitt­el auf Komposthau­fen, leicht zugänglich­e Abfallsäck­e oder sogar gezieltes Füttern. „Auch das kommt leider vor, obwohl das Zahmmachen von Wildtieren gesetzlich verboten ist.“

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FOTO: DPA Wildsau in einem Waldgebiet im Berliner Stadtteil Tegel.

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