Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Unliebsame Begegnungen
Wildtiere dringen immer öfter in die Städte vor
BERLIN/STUTTGART (dpa) - Schock in der Sparkasse: Ein wütender Keiler kommt krachend durch die Tür und dreht Runden im Kassenraum. Der Filialleiter wird am Bein verletzt. Verängstigte Kunden werden über Drehleitern in Sicherheit gebracht. Das dramatische Geschehen in der holsteinischen Kreisstadt Heide macht weithin Schlagzeilen. Nur wenige Wochen später toben am ersten Arbeitstag des Jahres 2018 zwei Keiler durch einen Supermarkt bei Karlsruhe – ehe sie mit ihrer Rotte im Wald verschwinden.
Immer wieder sorgen Auftritte anscheinend furchtloser Wildtiere in Domänen der Menschen für Aufregung. Füchse auf Spielplätzen in Berlin beäugen Kinder statt davonzulaufen. Waschbären an Müllsäcken in Kassel sind selbst mit dem Besenstiel kaum zu vertreiben. Rehe in Stuttgarter Vororten beißen seelenruhig Rosenknospen ab.
„Wildtiere besetzen Metropolen“, titelten kürzlich mehrere Zeitungen der Funke-Mediengruppe – und verglichen das Auftauchen von Löwen in Kenias Hauptstadt Nairobi und eine Schlangenplage im thailändischen Bangkok mit dem Wüten der Schwarzkittel in der Sparkasse von Heide.
Neben der Verdrängung durch die industrielle Landwirtschaft sei das grundsätzliche Jagdverbot in unseren Städten ein Grund dafür, dass die Zahl wilder Tiere in Siedlungsgebieten wachse, sagt Baden-Württembergs Landesforstmeister Max Reger. Wildschweine, Füchse oder Waschbären fänden dort nicht nur ein großes Nahrungsangebot. „Sie merken auch, dass da kein Feuer von Jägern zu befürchten ist.“
Was also tun, wenn – wie Wissenschaftler prognostizieren – immer mehr wilde Tiere die Städte bevölkern? Wenn das Unbehagen darüber wächst – angeheizt möglicherweise auch durch Horrorszenarien wie in der populären US-Serie „Zoo“, in der Tiere sich gegen die Menschheit verschwören? Ängste müssten immer ernst genommen werden, sagt Derk Ehlert, Wildtierexperte in der Berliner Senatsverwaltung. „Selbst wenn Anrufer nachts auf dem Ku’damm partout einen Wolf gesehen haben, der in Wirklichkeit ein Collie ist.“Geduldige Aufklärung sei wichtig, damit ein Nebeneinander von Stadtmenschen und Wildtieren gelingt.
Liebestoll, nicht tollwütig
„Dass Füchse immer Tollwut haben, wenn sie sich Menschen nähern, ist zum Beispiel Unsinn“, sagt Ehlert. Bürgern, die wegen eines Fuchses mit Schaum vor dem Maul Alarm schlagen, erklärt er die Ranz. „In der Paarungszeit gehört dieser Schaum dazu. Die sind nicht tollwütig, sondern liebestoll.“Zudem sei in Berlin seit Jahrzehnten kein Fuchsbandwurm mehr gemeldet worden. In Ehlerts Erfahrungsbild passt es auch nicht, dass Wildschweine einfach mal so „Amok laufen“– wie anscheinend im Kaufland bei Karlsruhe. Wenn sie mal „ausrasten“würden, dann fast immer, weil ihnen ein Fluchtweg abgeschnitten worden sei oder eine Verletzung sie quäle.
Berlin gilt als die Wildtiermetropole Europas, aber wenn es um einen wildlebenden Einwanderer aus Nordamerika geht, ist Kassel unangefochten die Hauptstadt: die der Waschbären. Nach Angaben der Umweltorganisation WWF leben dort rund 100 Tiere auf 100 Hektar. Bundesweit werden jährlich Zehntausende von Waschbären erlegt. Doch das kann – ähnlich wie der Abschuss von rund 580 000 Wildschweinen pro Jahr – den Zuwachs der Populationen in Stadtgebieten kaum bremsen, sagt Mark Harthun, Experte beim Naturschutzbund Deutschland. „Sie reproduzieren sich zu schnell.“Schädlich seien die Kleinbären dort, wo sie Frösche und andere Amphibien sowie manche Vogelarten auszurotten drohen.
Biber in München
Weit geringer als in Berlin oder Hamburg sind Polizeiangaben zufolge die Probleme mit Wildtieren in München. Allerdings klagen dort Anwohner des Stadtparks im Viertel Pasing über die streng geschützten Biber, die ihre Gärten unsicher machten.
Vielen Berlinern seien Wildtiere trotz aller Probleme willkommen, berichtet Experte Ehlert. So mancher sei stolz, dass sich – ähnlich wie in London – Füchse in der Öffentlichkeit sehen ließen, sogar im Garten vor dem Kanzleramt. Funktionieren könne eine Koexistenz auf Dauer aber nur, wenn es bei „respektvoller Distanz“bleibe. Deshalb dürften Wildtiere auf keinen Fall angelockt werden – etwa durch Lebensmittel auf Komposthaufen, leicht zugängliche Abfallsäcke oder sogar gezieltes Füttern. „Auch das kommt leider vor, obwohl das Zahmmachen von Wildtieren gesetzlich verboten ist.“