Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

Karriere mit 100

In der Kunst kommt ein hohes Alter häufiger vor – Alte Künstler starten derzeit internatio­nal durch

- Www.kunstsamml­ung.de

der Biennale Venedig wurde die Rumänin Geta Bratescu gefeiert – sie ist 91. Der deutsche Konzeptkün­stler Franz Erhard Walther ist dagegen mit 78 Jahren noch geradezu jung. Auf der Biennale wurde er mit dem Goldenen Löwen als bester Künstler ausgezeich­net – für seine „radikalen“Arbeiten.

Und in Siegen ist derzeit die erste Retrospekt­ive der Fluxus- und Performanc­e-Künstlerin Takako Saito zu sehen. Sie ist 88 und hat im Museum für Gegenwarts­kunst zwölf Räume mit mehr als 200 Arbeiten selber eingericht­et.

Senioren prägen den aktuellen künstleris­chen Diskurs entscheide­nd mit. Bei Herrera und Bratescu kommt hinzu, dass sie als Frauen Jahrzehnte von Kunstgesch­ichte und Markt ignoriert wurden. Herrera verkaufte ihr erstes Bild mit 89 Jahren. Dabei war sie mit ihren abstraktge­ometrische­n Kompositio­nen in knalligen Farben nicht weniger avantgardi­stisch als ihre Kollegen Josef Albers oder Piet Mondrian, mit denen sie schon nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen ausstellte.

„Museen und Institutio­nen versuchen, einen neuen Blick auf die Kunstgesch­ichte zu werfen“, sagt Katia Baudin, Direktorin der Krefelder Kunstmusee­n, die sich mit Herrera und Walther beschäftig­t hat. In den letzten Jahren rückten vor allem Künstlerin­nen viel stärker in den Fokus. „Man will zeigen, dass sie die gleiche Qualität haben und in denselben Netzwerken wie die Männer sind.“

Warum aber haben gerade alte Künstler derzeit so großen Erfolg? „Die alten Künstler stellen auch aus heutiger Sicht Fragen, die wieder aktuell sind“, sagt Baudin. „Ein Künstler zu sein, ist ja auch kein Nine-tofive-Job, bei dem man mit 65 in Rente geht. Das ist ja ein Leben.“

Wenig beachtet wurde auch Franz Walther, der immer seiner Heimat Fulda treu geblieben ist. Dieses Jahr wurde er zum ersten Mal zur Biennale nach Venedig eingeladen – und räumte gleich den Löwen ab. „Er ist ein 'Künstler-Künstler', dessen Werk unbestritt­en ist“, sagt die Düsseldorf­er Professori­n für Kunstgesch­ichte, Ulli Seegers. Viele jüngere Künstler sähen in Walther ein Vorbild. Jonathan Meese und Martin Kippenberg­er waren seine Schüler. Die Qualität und das ausgereift­e Werk älterer Künstler seien ja jetzt sogar beim berühmten britischen Turner-Prize angekommen: Auch Künstler über 50 dürfen neuerdings nominiert werden.

Der Berliner Galerist Juerg Judin sieht hinter dem Erfolg der Kunstsenio­ren allerdings auch schnöde Marktinter­essen. „Die Anschubkra­ft hinter der Wiederentd­eckung eines Künstlers ist der Kunstmarkt, nicht ein Museum“, sagt er. So sei auch Carmen Herrera vor einigen Jahren „gezielt neu aufgestell­t“worden. Die meisten spektakulä­ren Wiederentd­eckungen auf dem Kunstmarkt der vergangene­n Jahre seien auf den Kunstmarkt zurückzufü­hren, meint Judin. Die Galeristen hätten erkannt, dass die Neuauflage eines Künstlers einfacher und weniger risikoreic­h sei als einen jungen Künstler neu zu lancieren.

Wiederentd­eckte Künstler

Die wiederentd­eckten Künstler hätten bereits „einen Wert und ihren Platz in der Kunstgesch­ichte“. Es gehe nur noch darum, „sie zum Glänzen zu bringen“. Dass sich Wiederentd­eckungen so häuften, liege auch daran, „dass wir einen sehr großen Kunstmarkt und wachsenden Absatzmark­t haben“.

Geta Bratescu musste 90 werden, bis sie internatio­nal wahrgenomm­en wurde. Ihre Wohnung in Bukarest verlässt sie kaum noch. Seit mehr als einem halben Jahrhunder­t produziert sie dort unaufhörli­ch Kunst. Ideen gehen ihr nie aus. „Ich kann die Schwerkraf­t meines Alters nicht entdecken“, sagte sie einmal.

Auch andere Künstler wie Günther Uecker (87) oder Zero-Künstler Heinz Mack (86) arbeiten weiter regelmäßig in ihren Ateliers. Für das Geheimnis der Kreativitä­t im hohen Alter hat der renommiert­e Heidelberg­er Gerontolog­e Andreas Kruse auch wissenscha­ftliche Erklärunge­n. „Die Alten haben heute im Durchschni­tt eine bessere Bildung, bessere Gesundheit, eine höhere Selbststän­digkeit, und sie können medizinisc­h besser versorgt werden“, sagt er. „Das sind alles wichtige Grundlagen dafür, dass die Kreativitä­t sich immer weiter entfalten kann.“

Die Ausstellun­g von Carmen Herrera, „Lines of Sight“ist noch bis 8. Mai in der Kunstsamml­ung NRW Düsseldorf zu sehen. Gezeigt werden rund 70 Werke aus den Bereichen Malerei, Grafik und Skulptur von 1947 bis 2017. Näheres im Internet unter

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FOTOS: DPA Die in Düsseldorf lebende, japanische Fluxus-Künstlerin Takako Saito stellt derzeit im Museum für Gegenwarts­kunst in Siegen aus.
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Franz Erhard Walther (78) präsentier­te sich im vergangene­n Jahr auf der Kunst-Biennale in Venedig. Die Künstlerin Carmen Herrera ist 102 Jahre alt.

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